Japan: immer älter – immer weniger

Japan gilt wie Deutschland als Pionier einer demografischen Entwicklung, die früher oder später alle Industrienationen und bald auch die ersten Schwellenländer treffen wird.

In beiden Ländern bekommen die Frauen seit vielen Jahren im Schnitt weniger als 1,4 Kinder – eine Zahl, die deutlich niedriger ist, als für eine stabile Bevölkerungszahl nötig wäre. Dort wie hier hat sich die Zahl der Neugeborenen seit den 1970er respektive den 1960er Jahren halbiert.

In Japan und in Deutschland wachsen derzeit die geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter, während immer kleinere Kohorten ins Erwerbsalter aufsteigen. Deshalb sinkt in beiden Ländern der Anteil jener, die volkswirtschaftlich aktiv sein können – und es steigt der Anteil der Älteren, die von der Erwerbsbevölkerung versorgt werden müssen. Weil es in Japan jedoch so gut wie keine Zuwanderer gibt und auch keinerlei politische Konzepte für eine Zuwanderung vorliegen, rechnet das Nationale Institut für Bevölkerung und soziale Sicherheitsforschung bis 2060 mit einem Einwohnerverlust von 40 Millionen. Bis Ende des Jahrhunderts wäre nach diesem Szenario ein Bevölkerungsrückgang um zwei Drittel des heutigen Wertes von 127 Millionen zu erwarten. Für kein Land der Welt gibt es derartige Schrumpf-Vorhersagen.

Gleichzeitig würde sich die Alterung über die kommenden Jahrzehnte massiv beschleunigen. Schon in vier Jahrzehnten hätte Japan rund 700.000 über 100-Jährige zu versorgen.
Wirtschaftliche Folgen des demografischen Wandels

Sollte sich die Prognose bewahrheiten, ist es kaum vorstellbar, dass Japan seine Position als drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt aufrecht erhalten kann. Denn parallel mit dem beginnenden Schwund der Erwerbsbevölkerung hat sich seit Beginn der 1990er Jahre das Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamt. Seither steckt Japans Ökonomie in der Dauerkrise, während sich die Rahmenbedingungen stetig verschlechtern: Die Kosten der Sozialsysteme steigen wegen der Alterung. Die japanische Staatsverschuldung hat das Rekordniveau von 230 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreicht, unter anderem, weil Japans Regierung immer wieder vergeblich versucht hat, die Krise mit schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen zu beenden. Die Wettbewerbsfähigkeit der einstigen Technologieführer Sony und Co. ist gesunken – unter anderem weil den Forschungsabteilungen die jungen Mitarbeiter und die kreativen Ideen für neue Produkte ausgehen.
Job oder Kinder statt Job und Kinder

Bisher hat Japan es kaum geschafft, die Folgen des unvermeidlichen Wandels abzufedern. Die Familienpolitik zeigt keine wirklichen Erfolge darin, die Japanerinnen wieder zu mehr Kindern zu ermutigen. Das liegt vor allem daran, dass Japans Gesellschaft von Frauen immer noch erwartet, dass sie ihre Beschäftigung aufgeben, wenn Kinder kommen. Und dass es für Frauen noch weitaus schwieriger ist als etwa in Deutschland, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Selbst wenn die Geburtenraten künftig wieder anstiegen, wofür es bis dato keinerlei Anzeichen gibt, ließe sich mit dem Mehr an Kindern der akute Fachkräftemangel nicht beheben. Denn bis die heute Geborenen ausgebildet sind, vergehen an die 30 Jahre.

Zuwanderung, um die Belegschaften aufzufrischen, gilt in Japan nicht als politische Option. Nur 1,7 Prozent Ausländer leben in Japan, Einbürgerungen sind sehr selten. Zum Vergleich: In Deutschland haben – als Ausländer oder bereits mit deutschem Pass ausgestattet – 19 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund. Nicht einmal die dringend nötigen Pflegekräfte für Japans alternde Bevölkerung kommen in ausreichenden Zahlen ins Land. Die Kontingente von jährlich gerade einmal 1.000 Alten- und Krankenpflegern aus den Philippinen oder Indonesien werden nicht einmal ausgeschöpft.

Lediglich wenn es darum geht, ältere Bürger auf dem Arbeitsmarkt oder in der Zivilgesellschaft einzusetzen, ist Japan erfolgreich. Die Menschen arbeiten deutlich länger, als es das offizielle Renteneintrittsalter vorsieht. Rund ein Drittel der japanischen Männer hält 70 Jahre für ein vernünftiges Verrentungsalter, elf Prozent glauben sogar, man sollte bis 75 im Erwerbsleben bleiben. 52 Prozent aller Freiwilligen in der Nachbarschaftshilfe sind über 60 Jahre alt. Viele Senioren verdienen sich als „silberne Humanressourcen“ ein kleines Taschengeld hinzu, helfen in Gemeindebüros aus, kümmern sich um Kinder oder Ältere.
Die Wahl zwischen zwei Krisen

Insgesamt zeigt sich, dass Japan kaum als Vorbild für andere Nationen taugt, wie mit den Folgen des demografischen Wandels umzugehen ist. Nach Meinung der Autoren bleibt dem Land derzeit nur die Wahl zwischen zwei Krisen: Entweder es stürzt aufgrund des Schwundes an jungen Arbeitskräften in eine demografische Abwärtsschleife und in eine dauerhafte Wirtschaftskrise. Oder es öffnet sich für Zuwanderung und gerät dann in eine Identitätskrise, weil es seine noch immer gefühlte ethnische Homogenität aufgibt.

Für Interviewanfragen steht Ihnen zur Verfügung:

Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts unter Telefon: 030 – 3101 7560 und E-Mail: klingholz@berlin-institut.org

Prof. Dr. Gabriele Vogt, Japanologin an der Universität Hamburg, E-Mail: gabriele.vogt@uni-hamburg.de

Weitere Informationen:

http://www.berlin-institut.org/publikationen/discussion-paper/demografisches-neuland.html

– weitere Informationen und vollständiges Discussion Paper

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