Gerechtigkeit über Generationen – geht das?

„Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“ – Sprichworte dieser Art werden zitiert, wenn es um die Gerechtigkeit zwischen Generationen geht. Dem Appell zu mehr Verantwortungsbewusstsein mag sich wohl niemand verschließen. Und überhaupt scheint die Gerechtigkeit ein Ideal zu sein, auf das sich alle berufen – auch wenn sich die Meinungen über eine konkrete Umsetzung häufig widersprechen. Während Fragen sozialer Gerechtigkeit schon lange Gegenstand der Theoriebildung sind, steckt die wissenschaftliche Reflexion zur Generationengerechtigkeit noch in den Kinderschuhen. Wie zum Beispiel können wir gegenüber ungeborenen Menschen gerecht sein, wenn wir deren besondere Bedürfnisse und Wünsche nicht kennen und auch nicht kennen können? Diesen Grundsatzfragen widmet sich der Frankfurter Philosoph und Professor für Internationale Politische Theorie Stefan Gosepath in der soeben erschienenen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ (3/2010).
„Über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit werden die meisten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausgetragen“, betont Gosepath, Mitglied des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ und Leiter der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global“. Öffentliche Kontroversen zur Gerechtigkeit zwischen Generationen sind gleichwohl ein relativ junges Phänomen. Denn diese Dimension der Gerechtigkeit ist seit Menschengedenken eine eher implizit praktizierte moralische Praxis – sei es bei traditionellem nachhaltigem Wirtschaften, bei der Vererbung oder bei der Alterssicherung im Kreise der Familie. Zudem hat sich die Lage zukünftiger Generationen oft durch den wirtschaftlichen, technischen, medizinischen und politisch-sozialen Fortschritt verbessert. Die politische wie wissenschaftliche Aktualität des Themas hat ihre Ursachen in neueren Konstellationen. Wohl zum ersten Mal in ihrer Geschichte scheint die Existenz der Menschheit als gesamte Gattung bedroht – durch Massenvernichtungswaffen, die Risiken der Atomenergie sowie die ökologischen Folgen von Klimawandel und Schadstoffen.
Gosepath unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Begriffs Generationen: zum einen in der epochenübergreifender Hinsicht, zum anderen bezogen auf eine gemeinsame Zeitspanne: „Nur bei der ersten Bedeutung von ‚Generation‘, im Sinne der nicht gleichzeitig Lebenden, stellen sich spezifische Probleme, während die zweite Bedeutung, im Sinne der gleichzeitig Lebenden, ein weiterer Fall der Gerechtigkeit zwischen Gruppen ist, wie etwa bei der Geschlechter-, Rassen- oder Klassen-Gerechtigkeit“, so der politische Philosoph.

Bereits für das gesellschaftliche Miteinander unter gleichzeitig Lebenden existieren konkurrierende Gerechtigkeitstheorien. In fast allen dieser Theorien sind die qualifizierten Interessen oder das qualifizierte Wohlergehen der betroffenen Individuen der zentrale Aspekt, dem wir Achtung und Berücksichtigung schulden. Doch je später die zukünftigen Generationen leben, umso geringer ist unser Wissen um ihre Lebenssituation, ihre Möglichkeiten und ihre daran angepassten Interessen. „Die zentrale moralische Rücksicht auf die Interessen der Betroffenen bleibt also mit Bezug auf zukünftige Generationen wenn nicht unbestimmt, so doch unterbestimmt“, gibt Gosepath zu Bedenken. Auch sei es – zum Beispiel im Sinne einer strikten Gleichverteilung – praktisch unmöglich, für unbekannt viele Mitglieder unbekannt vieler zukünftiger Generationen gleiche Ressourcen bereitzustellen. „Damit bliebe für die jetzige Generation wohl sehr wenig zur Erfüllung der eigenen Lebensprojekte übrig.“ Eine oft vertretene Ansicht zum komplexen Thema der Generationengerechtigkeit beschränkt sich weitgehend auf die Forderung gleicher Mindeststandards für alle zukünftigen Generationen. „Eine meines Erachtens recht plausible Auffassung bestimmt Mindeststandards der intergenerationellen Gerechtigkeit so, dass mindestens die unvermeidlichen anthropologischen Bedürfnisse von Menschen erfüllt sein müssen“, sagt Stefan Gosepath. Dazu gehören ganz ohne Zweifel Luft, Wasser und Nahrungsmittel, aber auch geordnete politisch-soziale Strukturen, die ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit ermöglichen. Stefan Gosepath: „Der ungezügelte Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen, die zu wenig gebremste Treibhausgasemission, die steigende Staatsverschuldung in vielen Ländern und die große globale Ungleichheit sind damit nur schwer zu vereinbaren.“ Der politische Philosoph wird auch im Rahmen der maßgeblich vom Exzellenzcluster mitveranstalteten Reihe „Was heißt Gerechtigkeit heute?“ im Rahmen der 4. Frankfurter Bürger-Universität referieren. Sein Thema am 24. Januar 2011 um 19.30 Uhr im Depot der Frankfurter Rundschau (Karl-Gerold-Platz 1, 60594 Frankfurt am Main): „Rechnung auf morgen – Schuldenfalle und Zukunftsinvestitionen: Was schulden wir zukünftigen Generationen?“ Die soeben erschienene Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ enthält eine Vielzahl von Forschungsthemen, die sich aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen: Nachhaltigkeit in der Kunst, Klimawandel und Gesundheitsrisiken, Konsumverhalten, Bevölkerungsdynamik, alternative Energien, Mobilitätsforschung und vieles mehr…

Informationen: Prof. Stefan Gosepath, Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ und Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata“, Tel: (069) 798-25374, stefan.gosepath@normativeorders.net, www.normativeorders.net/organisation/
mitarbeiter-a-z/stefan-gosepath
Details zur Reihe „Was heißt Gerechtigkeit heute?“ im Rahmen der 4. Frankfurter Bürger-Universität: www.uni-frankfurt.de/informationen/BUERGER/bvl-ws2010/index.html

Kostenlose Bestellung von „Forschung Frankfurt“: ott@pvw.uni-frankfurt.de „Forschung Frankfurt“ online: www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/2010/index.html

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. 1914 von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn drittmittelstärksten und größten Universitäten Deutschlands. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Parallel dazu erhält die Universität auch baulich ein neues Gesicht. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht ein neuer Campus, der ästhetische und funktionale Maßstäbe setzt. Die „Science City“ auf dem Riedberg vereint die naturwissenschaftlichen Fachbereiche in unmittelbarer Nachbarschaft zu zwei Max-Planck-Instituten. Mit über 55 Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Universität laut Stifterverband eine Führungsrolle ein.

Herausgeber: Der Präsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Redaktion: Ulrike Jaspers, Referentin für Wissenschaftskommunikation, Abteilung Marketing und Kommunikation, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt am Main,

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Dr. Anne Hardy idw

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