Sind die traditionellen Gewerkschaften Auslaufmodelle?

Wer arbeitet, muss flexibel sein. Ständig werden den Arbeitnehmern bei der Arbeitsorganisation neue Anforderungen abverlangt. Wie gehen die Beschäftigten mit dieser Situation um? Setzen sie sich zur Wehr? Welche Möglichkeiten haben die vielen „ausgesourcten“ neuen kleinen Selbstständigen, sich mit ihrer Lage auseinander zu setzen? Welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften? Gibt es neue Formen sozialen Widerstands?

Mit diesen Fragen setzen sich Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler der Universität Bremen unter der Leitung von Professor Holger Heide auseinander. Sie organisierten eine Debatte über Ausprägungen und Entwicklungsperspektiven neuer Formen sozialen Widerstands vor dem Hintergrund neuer, zunehmend flexibilisierter Arbeitsformen. Sozialwissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen, Gewerkschafter und betroffene Beschäftigte meldeten sich zu Wort. Das Ergebnis: Die Gewerkschaften verlieren immer stärker an Einfluss. Parallel entstehen in den veränderten Arbeitszusammenhängen neue soziale Bewegungen – in ihrem Selbstverständnis meist keineswegs als Konkurrenz zu den Gewerkschaften – , in denen die Selbstorganisation an Bedeutung gewinnt und der Begriff Solidarität neue Inhalte bekommt.

Ausgangspunkt des Projektes war die Feststellung, dass sich im Zusammenhang mit der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen zugleich neue Formen sozialen Widerstands herausbilden. Die „Krise des Fordismus“ führt – so die Hypothese – auch zu einer Krise der etablierten gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen, die sich in der so genannten „fordistischen“ Phase der kapitalistischen Entwicklung herausgebildet haben. Inzwischen haben sie sich selbst zu Unternehmen für die Bestimmung und Verwaltung von Mitgliederinteressen entwickelt. Aber die alten Organisationen werden im Zuge der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen in ihrer alten Rolle schleichend in zweierlei Weise „überflüssig“: Zum einen entwerten neue Formen der Unternehmensorganisation und der Organisation des Arbeitsprozesses tendenziell die Gewerkschaften als Verhandlungspartner. Zum anderen werden sich die Arbeitnehmer der Entmündigung durch die bürokratischen Organisationen bewusst. Und gleichzeitig drängen ihnen die neuen Formen der Arbeitsorganisation die Möglichkeit auf, sich an ihren individuellen Bedürfnissen statt an zunehmend abstrakt erscheinenden „Gesamtinteressen“ zu orientieren. Dies bedeutet jedoch nicht das Ende sozialer Organisation. Es entstehen vielmehr auch aus dem veränderten Arbeitszusammenhang soziale Bewegungen, die neue Qualitäten entfalten, in denen die Kategorie der Selbstorganisation zunehmend an Bedeutung gewinnt und der Begriff der Solidarität ganz neue Inhalte erhält.

Was heißt Selbstorganisation?

Der Begriff Selbstorganisation steht hier für den Versuch, ausgehend von den eigenen Bedürfnissen, die Verantwortung für das eigene soziale Handeln und den Widerstand gegen eine umfassende Vereinnahmung selbst zu tragen statt sie weiter zu delegieren. Beispielhaft ist hier das NCI-Netzwerk bei Siemens München (NCI = Network, Cooperation, Initiative), das aus einer Rundmail mit der Frage entstand: „Wie fühlt ihr euch angesichts der angekündigten Massenentlassungen?“ Dieser vertiefte Kontakt mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen kann dann zum Ausgangspunkt für einen von seinen strukturalistischen Schranken befreiten Begriff der Solidarität werden.

Die Debatte ist angesiedelt im Forschungskontext des Instituts SEARI (Social Economic Action Research Institute – Institut für sozialökonomische Handlungsforschung). Das SEARI ist 1997 im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Uni Bremen eingerichtet worden und wird heute als gemeinnütziger Verein weitergeführt. Ziel der Forschungen ist die Dokumentation und interdisziplinäre Analyse der Extensivierung und Intensivierung ökonomischer Prozesse in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft unter besonderer Berücksichtigung soziologischer und sozialpsychologischer Aspekte

Die wichtigsten Beiträge zu der aktuell geführten Debatte liegen jetzt als Band 3 der Monografien des Instituts über aktuelle Veränderungen der Arbeitsgesellschaft vor. Neben theoretischen Ansätzen zur Frage nach den Entstehungsursachen und Perspektiven der Transformation von Arbeit und sozialem Widerstand werden Beispiele aus Deutschland (so das NCI-Netzwerk bei Siemens, München), Frankreich (wie die Entwicklungen bei den Sud-Gewerkschaften) und Italien (die Problematik der neuen kleinen Selbstständigen) analysiert.

Sergio Bologna, Holger Heide u. a. : Selbstorganisation – Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin 2007.

ISBN 978-00-021396-0.

Weitere Informationen:

Universität Bremen
Prof. Dr. Holger Heide
E-Mail; hheide@uni-bremen.de
Tel: ++46-563-514 22
Dipl. Pol. Lars Meyer
E-Mail: lmeyer@uni-bremen.de
Tel. ++49 – 0 – 421-5340955

Media Contact

Eberhard Scholz idw

Weitere Informationen:

http://www.seari.uni-bremen.de

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