Arbeitsmarkt für Menschen mit geistiger Behinderung

Die Frage, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung den Wechsel von ihrer jeweiligen Förderschule ins Berufsleben bewältigen, beschäftigt Erhard Fischer schon seit Langem. Fischer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sonderpädagogik IV – Pädagogik bei geistiger Behinderung an der Universität Würzburg.

Gemeinsam mit der Diplompädagogin Manuela Heger leitet er seit 2008 eine wissenschaftliche Begleitstudie zum Thema „Übergang Förderschule – Beruf“. Ziel ist es, Schulabgängern des Förderzentrums mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine Perspektive zur Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu eröffnen.

„Seit einiger Zeit wird die Forderung immer lauter, den häufigen Automatismus eines Übergangs von der Förderschule in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu durchbrechen“, sagt Manuela Heger. Aus diesem Grund sollte die vom Lehrstuhl für Sonderpädagogik IV organisierte Fachtagung „Perspektiven – Projekte zur beruflichen Integration für Menschen mit geistiger Behinderung“ Konzepte und Ideen vorstellen, wie Schulen und nachschulische Einrichtungen Menschen mit geistiger Behinderung individuell auf den Übergang in den Beruf vorbereiten und sie beim Verbleib dort unterstützen können. Eine Möglichkeit dazu heißt: Träume verstehen.

Träume sind wichtige Wegweiser

„Arbeit ist dann gut, wenn sie einen Menschen weder unterfordert, noch seine Möglichkeiten übersteigt. Dies gilt gerade auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung.“ Mit dieser Prämisse begann Elisabeth Tschann ihren Vortrag für die rund 250 Tagungsteilnehmer. Die Sonderpädagogin arbeitet im Institut für Sozialdienste im österreichischen Vorarlberg. Dort bilden Träume der behinderten Jugendlichen den Ausgangspunkt für die Arbeitsplatzfindung: „In diesen Träumen steckt Kraft, sie sind wichtige Wegweiser“, sagte Tschann. Aufgabe der Integrationsberater sei es, die Träume der jungen Menschen zu „übersetzen“.

Beispiel: Ein Jugendlicher träumt davon, Arzt zu werden. Mit einer geistigen Behinderung ist das natürlich nicht möglich. Im Gespräch stellt sich heraus, dass die einfühlsame Art jener Ärzte, die der junge Mann einst im Krankenhaus erlebt hatte, seinen Berufswunsch speiste. Er selbst war ebenfalls äußerst einfühlsam und konnte gut zuzuhören. Dieses Talent brachte er nach der Phase der Berufsorientierung schließlich in einem Pflegeheim ein.

Nischenjobs für die speziellen Bedürfnisse

Dass oft „verrückte“ Ideen durch die Köpfe der Förderschulabgänger geistern, bestätigte Rolf Behncke, Geschäftsführer der „Hamburger Arbeitsassistenz“. Auch bei dieser 1992 ins Leben gerufenen Initiative kommt den Träumen der Jugendlichen ein hoher Stellenwert zu. Behncke erläuterte dies am Beispiel einer jungen Frau aus Hamburg. Diese wünschte sich sehnlichst, in einem Schönheitsstudio zu arbeiten. Erst durch ein Praktikum in einem Nagelstudio merkte sie, dass der Job „Schönheit“ in Wirklichkeit gar nicht so „traumhaft schön“ ist, wie sie erwartet hatte.

Wer auf dem ersten Arbeitsmarkt nach Jobs Ausschau hält, die individuell auf Menschen mit einer geistigen Behinderung zugeschnitten sind, sucht meist vergeblich. Gefragt sind laut Behncke Nischenjobs, die „neu erfunden“ werden müssen. Die Arbeitsassistenten aus dem Hamburger Projekt sind denn auch äußerst findig darin, derartige Nischen in Betrieben aufzuspüren. Für eine junge Frau mit kognitiven Einschränkungen und einer starken Sehbehinderung etwa schufen sie in einem Unternehmen eine bis dato nicht vorgesehene Stelle als Bürobotin. Der Job stellte sich als überaus sinnvoll heraus, die junge Frau bewährte sich hervorragend.

Auch Werkstätten für behinderte Menschen sind dabei, Arbeitsplätze außerhalb der Werkstätten selbst zu organisieren. In den in Würzburg beheimateten Mainfränkischen Werkstätten etwa wurden in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Außenarbeitsplätze geschaffen. 30 Menschen mit Behinderungen arbeiten in einem Wildpark nahe Würzburg, 140 Mitarbeiter haben Außenarbeitsplätze im Garten- und Landschaftsbau. 25 Menschen mit geistiger Behinderung sind „solo“ in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes integriert, wobei sie vertraglich an die Werkstatt angebunden sind.

Lebenslanges Lernen auch für Menschen mit Behinderungen

Eine Lösung steht noch aus, was die Nachqualifizierung der außerhalb der Werkstätten tätigen Mitarbeiter betrifft, legte Michael Wenzel von den Mainfränkischen Werkstätten dar. Eine neue Maschine, neue Kollegen oder eine Umstrukturierungsmaßnahme drohen, die Beschäftigten aus der Bahn zu werfen. Am lebenslangen Lernen, unterstrich Harald Ebert, Leiter der Würzburger Don Bosco-Berufsschule, geht auch in der Behindertenhilfe kein Weg vorbei. Fazit: „Die Tagung wurde von den Teilnehmern als wertvolle Anregung mit vielen vielfältigen Impulsen empfunden“, sagt Manuela Heger. Aber auch für die Organisatoren sei sie ein voller Erfolg gewesen. 250 Anmeldungen sprächen für die Aktualität und den Informationsbedarf, der im Bereich der beruflichen Integration besteht.

Kontakt
Manuela Heger, T: (0931) 31-89124; E-Mail: manuela.heger@uni-wuerzburg.de

Media Contact

Robert Emmerich idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-wuerzburg.de

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