Sturmflut oder Palmenstrand – Wie Klimarisiken wahrgenommen und verarbeitet werden

Sturmflut in Bremerhaven – eine mögliche Folge der globalen Klimaveränderungen in deutschen Küstenstädten. Foto: Wikimedia Commons, Garitzko<br>

Vergleichbar müssten daher auch die Einschätzung der Gefahren durch den Klimawandel und die daraus abgeleiteten Maßnahmen sein. Weit gefehlt, berichten IRS-Wissenschaftler in einem Artikel in der „Zeitschrift für Zukunftsforschung“: Soziale und kulturelle Unterschiede lassen stark differierende Wahrnehmungen des Klimawandels entstehen.

Die Untersuchung ist Teil eines Forschungsprojekts im Rahmen des Potsdamer Forschungs- und Technologieverbundes für Naturgefahren, Klimawandel und Nachhaltigkeit (PROGRESS). Die Sozialwissenschaftler um PD Dr. Gabriela Christmann wollten dabei herausfinden, wie das globale, abstrakte Phänomen des Klimawandels lokal wahrgenommen und interpretiert wird.

Dahinter steht die Vorstellung, dass eine bestehende Gefährdungssituation nicht automatisch als eine Bedrohung, angesehen werden muss. „Bedrohungen werden erst dann zu eine gesellschaftlichen Realität, wenn sie von den Menschen als solche erkannt werden“, erklärt Christmann. „Dabei kann es sogar passieren, dass eine scheinbare Gefahr als harmlos wahrgenommen wird, weil man sich ihrer bewusst geworden ist und man sich als gut vorbereitet fühlt.“ Die Wissenschaftler sprechen daher nicht von objektiv gegebenen Vulnerabilitäten (Verwundbarkeiten oder Verletzlichkeiten), sondern von gesellschaftlich konstruierten Vorstellungen einer Vulnerabilität.

Um Vulnerabilitätsvorstellungen in Bezug auf Folgen des Klimawandels im südlichen Nord- und Ostseeraum zu bestimmen, haben sie mehr als 1.000 Experten aus Politik, Planung, Wirtschaft und Wissenschaft zu künftigen Klimarisiken befragt. Zugleich haben sie in Lübeck und Rostock knapp 3.000 Presseartikel zwischen 2003 und 2010 ausgewertet, um herauszufinden, wie die Vulnerabilitäten im öffentlichen Diskurs dargestellt werden. „Obwohl beide Städte quasi dieselben natürlichen Risiken hinsichtlich Hochwasser- oder Dürreereignisse aufweisen, sind die Vulnerabilitätswahrnehmungen sehr unterschiedlich“, berichtet Christmann. Es lassen sich verschiedene stadtkulturelle Verarbeitungsformen des Klimawandels feststellen. In Lübeck werden die Gefahren des Klimawandels zwar gesehen und vor allem für die Altstadt thematisiert, aber als bewältigbar dargestellt.

„Man verweist auf die Erfahrungen, die man schon in der Geschichte mit Sturmfluten und Hochwasser gemacht hat und denen man in hanseatischer Manier erfolgreich trotzen konnte“. In Rostock spielen Klimathemen nur eine geringe Rolle. Sofern sie thematisiert werden, werden sie nicht mit historischen Wissensmustern und Traditionen der Hansestadt verbunden. Im lokalen Diskurs stehen ganz andere Bedrohungen wie Arbeitslosigkeit oder Abwanderung im Vordergrund. „Der Klimawandel hingegen wird als eine Chance gesehen, diesen Trends begegnen zu können“, so Christmann. Mit der globalen Erwärmung werden Hoffnungen verbunden, den Tourismus, den Ausbau erneuerbarer Energien und damit die Wirtschaft vorantreiben zu können.

Wie stark die kulturellen Traditionen und lokalen Wissensmuster die Einschätzung von Gefahren beeinflussen, zeigt auch ein weiteres Ergebnis der Studie. Im internationalen Vergleich sehen in niederländischen Städten nur ein Drittel der Befragten den Anstieg des Meeresspiegels als großes Problem an. In Polen sind es hingegen fast 57 Prozent. Dies steht der naturräumlichen Bedrohungslage diametral entgegen und belegt, dass Vulnerabilitätswahrnehmungen nur zu einem geringen Teil durch faktisches oder potenzielles Ausgesetzt sein einer Gefahr zu erklären sind. „Da der Hochwasserschutz und die Landgewinnung in den Niederlanden seit Jahrhunderten praktiziert wird, werden steigende Meeresspiegel – zurecht – als machbare Herausforderung angesehen“, erklärt Christmann. „In Polen existiert dieses tradierte Wissen nicht und die Bedrohung erscheint viel dramatischer.“ Eine hohe Sensibilität für die Bedrohung wie in den Niederlanden ist oft gleichbedeutend mit einem hohen Vertrauen in die Bewältigung.

„Diese Erkenntnisse zeigen, dass bei der Erarbeitung von Gesamtstrategien zum Umgang mit Klimarisiken die lokalen Vulnerabilitäts-Wahrnehmungen viel stärker einbezogen werden müssen“, schließt Christmann. „Ignoriert man diese historischen, kulturellen und sozialen Differenzen, läuft man Gefahr, zu unterschiedlichen Problemdefinitionen und damit auch zu widersprüchlichen Handlungsempfehlungen zu kommen.“

Vulnerabilitätsforschung am IRS
Von 2010 bis Ende 2012 arbeiten mehrere Abteilungen des IRS am Brückenprojekt „Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive“. Ziel des Forschungsprojekts ist es, die Wahrnehmung und Verarbeitung von Gefahren sowie die Strategien zum Umgang mit diesen Gefahren aus sozial- und raumwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen. Dabei werden die vor allem von der Ökologie und Entwicklungsländerforschung geprägten Begriffe „Vulnerabilität“ (Verwundbarkeit) und „Resilienz“ (Handeln zur Verringerung der Verwundbarkeit) mittels theoretischer und empirischer Forschung neu gefasst. Die untersuchten Kontexte umfassen neben dem Klimawandel auch Images von Städten und Regionen (No-Go-Areas, Armutsviertel) und die Arbeitswelt von Musicaldarstellern.
Weitere Informationen zum Brückenprojekt finden Sie unter folgender Webadresse: http://www.irs-net.de/forschung/abteilungsuebergreifend/index.php

Kontakt

PD Dr. Gabriela B. Christmann
Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“
Tel. 03362/793-299
Christmann@irs-net.de

Jan Zwilling
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 03362/793-159
zwilling@irs-net.de

Über das IRS

Das Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) forscht am Schnittpunkt von Raum- und Sozialwissenschaften. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung von Städten und Regionen. In fünf Abteilungen untersuchen Wissenschaftler die Dynamiken von Wirtschafts¬räumen, institutionelle Arrangements und Governance-Formen für kollektiv genutzte Güter, die Rolle von Kommunikation und Wissen bei Raumentwicklungsprozessen sowie den Strukturwandel und die Regenerierung von Städten. Die Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS bilden die einzige auf die Bau- und Planungsgeschichte der DDR spezialisierte Sammlung in der Bundesrepublik Deutschland.

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