Harte Schale – weicher Kern

Die AG Keupp mit einem ihrer Forschungsobjekte: Prof. Dr. Helmut Keupp, Dr. Theo Engeser, Anton Sprey (obere Reihe, v.l.n.r.) sowie Dirk Fuchs und Dr. Kerstin Warnke (untere Reihe)

Tintenfische dienen Paläontologen der Freien Universität Berlin als Untersuchungsobjekte.

Cephalopoden – niemand kennt sie genau, aber sie sind in aller Munde. Und das im wortwörtlichen Sinne. Denn Calamari fritti hat schon fast jeder Mensch einmal in einem italienischen Restaurant genossen. Kalmar, Krake, Sepia und ihre Kollegen dienen aber nicht nur als Leckerei, sondern auch als Hauptdarsteller in Horrorfilmen wie „Das Monster aus der Tiefe“.

Der Tintenfisch – von Legenden umwoben. In aller Welt müssen sich Cephalopoden-Forscher mit Halbwahrheiten auseinandersetzen. Zum Beispiel mit der alten Seefahrer-Geschichte, die besagt, dass riesige Tintenfische ganze Schiffe in die Tiefe gerissen hätten. In der Tat gibt es Kopffüßer in der Größe bis zu 20 Meter. Ihr Name: Architeuthis. Doch diese Giganten leben in der Tiefsee und sind bisher nur gesichtet worden, wenn sie tot an irgendeinen Strand angetrieben wurden. Einen Ausflug an die Oberfläche, um gehässigerweise eine Galeere zu kapern, würde diese Kalmar-Gattung wegen des großen Druckunterschiedes und des im flachen Wasser fehlenden Sauerstoffs gar nicht überleben.

Doch auch ohne den Märchen Glauben zu schenken, strahlen Octopus, Sepia & Co. eine Faszination aus. Und das keineswegs unbegründet: Cephalopoden sind verhältnismäßig intelligent, zeigen eine enorme Neugier, wechseln ihre Farbe so schnell, dass ein Chamäleon vor Neid ganz langsam erblassen würde, verändern die Oberfläche ihrer Haut zu Tarnungszwecken ebenso rasant und sind teilweise in der Lage, ihren massig aussehenden, nur aus Muskelfleisch bestehenden Körper durch engste Ritzen zu zwängen. Zudem wird ihre Tinte nicht nur zum Schreiben benutzt, sondern dient in der Homöopathie auch als Antidepressivum.

Auch an der Freien Universität Berlin stehen diese Tiere im Mittelpunkt, arbeitet eine Gruppe von Wissenschaftlern um Professor Helmut Keupp an Cephalopoden. Bleibt die Frage: Wieso wird fernab des Ozeans an Tintenfischen geforscht? Und dann auch noch am Institut für Geologische Wissenschaften, Fachrichtung Paläontologie, in Lankwitz und nicht im Fachbereich Biologie. „Die Cephalopoden sind ein sehr relevantes Untersuchungsobjekt, weil sie in Form von Nautiliden und Ammoniten die häufigsten Fossilien sind“, begründet Keupp das Interesse der Freien Universität an Tintenfischen. „Da muss man sich nur einmal ihre Verbreitung in der Erdgeschichte ansehen – lebend gibt es sieben- bis achthundert Arten, fossil etwa 25.000 Arten.“

Und dann fällt ganz schnell der Begriff Leitfossil. Das bedeutet, dass man über bestimmte Fossilien Gesteinsserien zeitlich einordnen kann. Als Beispiel: Wenn der Paläontologe ein Schistoceras findet, weiß er, dass er sich im obersten Oberkarbon – also in einer 290 Millionen Jahre alten Sedimentschicht – befindet. Eine alternative Möglichkeit, ein Erdzeitalter zu bestimmen, besteht durch radiometrische Altersdatierung. Das heißt, durch die Messung der Zerfallsprodukte von radioaktiven Stoffen in den Gesteinen. „Doch da gibt es viele Störfaktoren“, erklärt Keupp: „Zum Beispiel durch Stoffaustausch im Grundwasser oder thermische Aufheizung der Gesteine. Je älter das Gestein ist, umso größer ist deshalb die Unsicherheit. Häufig sind überhaupt keine radioaktiven Stoffe vorhanden.“

Und eben hier helfen die Leitfossilien, also die Cephalopoden weiter. „Die radiometrische Altersdatierung ist absolut, die Biostratigraphie relativ, aber zuverlässiger. Kombiniert man beides, kann man einen zeitlichen Aufschluss auf zehn- bis zwanzigtausend Jahre genau erreichen.“

Was ist nun genau das Arbeitsfeld der AG Keupp? Der Doktorand Dirk Fuchs beschäftigt sich im Rahmen des gemeinsam mit Biologen und Paläontologen der Humboldt-Universität durchgeführten Graduiertenkollegs „Evolutive Transformationen und Faunenschnitte“ mit fossilen Coleoiden. Coleoiden sind Tintenfische, die ihre Schale im Laufe der Evolution in den Körper hinein verlagert haben und diese Schale teilweise oder ganz reduzierten. Bei fast allen rezenten Cephalopoden wie Sepia, Kalmar, Krake und Co. handelt es sich um moderne Coleoiden. Dirk Fuchs durchsucht die Literatur und weltweit auch Sammlungen von Naturkundemuseen nach Merkmalen an fossilen Coleoiden und bewertet diese. „Er soll eine Merkmalshierarchie nach einem einheitlichen System erstellen“, erklärt Keupp, „herausfinden, wie die Stammesentwicklung dieser Gruppe abgelaufen, wie sie durch äußere Einflüsse wie das Absenken des Meeresspiegels beeinflusst worden sein könnte.“ Das gleiche Gebiet, nur bei den Ammoniten, ist bereits Thema der fast abgeschlossenen Doktorarbeit von Anton Sprey. „Zeitliche Abfolge und morphologische Details helfen auch, heutige Verwandtschaftsbeziehungen zu klären“, meint Keupp. Deshalb durften beide dabei nicht die lebenden Kopffüßer aus den Augen verlieren.

An denen forscht in der AG Keupp Dr. Kerstin Warnke: Sie beschäftigt sich mit der Biologie von Spirula. Dieses so genannte „lebende Fossil“ sieht den urtümlichen Tintenfischen mit einer relativ vollständig erhaltenen Schale noch sehr ähnlich und soll Rückschlüsse auf die Vergangenheit erleichtern. Mittelfristig soll über künstliche Befruchtung die Embyonalentwicklung dieses Tieres und insbesondere die der Schale untersucht werden. Überaus hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Kooperation mit Sigurd von Boletzky, einem international anerkannten Entwicklungsbiologen für rezente Cephalopoden aus dem französischen Banyuls-sur-Mer.

Spirula wurde im Herbst letzten Jahres in Zusammenarbeit mit dem Instituto Ciencias del Mar (Gran Canaria) vor Fuerteventura mit einem extra dafür angefertigten Netz gefischt. Momentan untersucht Warnke die DNA dieses „Posthörnchens“, um herauszufinden wie die Tiergruppe innerhalb der lebenden Cephalopoden einzuordnen ist und ob Spirula, wie von Keupp vermutet, sehr ursprünglich ist und damit der nächste lebende Verwandte der Ammoniten sein könnte. „Aber molekulare Untersuchungen reichen nicht aus“, stellt Keupp klar. „Dadurch kann ein völlig anderes, schiefes Verwandtschaftsbild entstehen.“ In Zusammenarbeit mit Sprey und Fuchs soll Warnke die Verbindung zwischen Gestern und Heute herstellen. Keupp: „Diese Kombination soll unsere Stärke werden.“

Er selbst trägt gemeinsam mit Dr. Theo Engeser seinen Teil zum Gelingen dieser Aufgabe bei. Die beiden haben sich die Palökologie und die Paläopathologie vorgeknöpft. Über Untersuchungen der Kiefer und der Mageninhalte wird die Ernährung analysiert, sichtbare Verletzungen an den Fossilien lassen Rückschlüsse auf Feinde zu. Dadurch können die Wissenschaftler den ehemaligen Lebensraum der Tiere eingrenzen und deren Morphologie erklären.

Es sind noch viele Fragen offen. Wie verändern sich die Ökosysteme mit der Zeit und durch Evolution? Vor rund 65 Millionen Jahren, an der Grenze von der Kreide zum Tertiär, starben die meisten Arten mit Außengehäusen aus – warum? Und schließlich: Warum haben die Ammoniten nicht überlebt, aber die Nautiliden und Coleoiden sehr wohl? All das möchte die AG Keupp nun interdisziplinär mit der Biologie herausfinden. „Man lernt aus der Stammesgeschichte aber auch die heutige Tintenfisch-Fauna besser verstehen“, kommt Keupp in die Gegenwart zurück. „Es ist wichtig, ökologisch gewachsene Zusammenhänge zu kennen. Denn die Cephalopoden sind ein Nahrungspotenzial der Zukunft, enorm wichtig für die Welternährung.“ Womit wir wieder bei der anfangs erwähnten Delikatesse wären…

Micha Bustian

Weitere Informationen erteil Ihnen gern:
Prof. Dr. Helmut Keupp, Fachbereich Geowissenschaften der Freien Universität Berlin, Institut für Paläontologie, Malteserstr. 74-100, Haus D, 12249 Berlin-Lankwitz, Tel.: 030 / 838-70270, E-Mail: keupp@zedat.fu-berlin.de

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