Kommunikation mit Signalen des Gehirns

Kann man einem Gewalttäter durch ein Gehirntraining seine gewalttätigen Impulse abtrainieren oder wenigstens dämpfen? Kann man dem Gehirn von Menschen, die sich nicht äußern können, etwa weil sie vollständig gelähmt sind, Signale emotionaler Reaktion entnehmen und ihnen damit eine rudimentäre Kommunikation ermöglichen?

Niels Birbaumer erforscht seit Jahren die Verankerung von Lernen und Gedächtnis in neuronalen Prozessen des Gehirns. Dies ist das zentrale Thema seiner Forschung am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen. Doch Birbaumer zielt nicht nur auf die Grundlagenforschung. „Ich bin Kliniker“, sagt er. „Ich kann nur forschen, was hilft.“

Dazu möchte er Experimente durchführen, welche die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als „in hohem Maß innovative oder im positiven Sinn risikobehaftete Projekte“ anerkennt. Für solche Projekte kann ein „durch besondere wissenschaftliche Leistung“ ausgewiesener Wissenschaftler von der DFG die Bewilligung eines Reinhart-Koselleck-Projektes bekommen. Dies ist Niels Birbaumer nun gelungen. Die DFG hat ihm für einen Zeitraum von fünf Jahren 1,25 Millionen Euro und dazu eine Programmpauschale von 250.000 Euro bewilligt.

Birbaumer möchte mit seinen Mitarbeitern an unterschiedlichen praktischen Beispielen das „Lernen von Hirnkommunikation“, wie er es nennt, studieren. Der Titel seines Projektes lautet deshalb auch: „Klassisches und instrumentelles Lernen von Hirnkommunikation und neuronaler Konnektivität“. Verbunden mit dem Projekt sind zwei Stellen für Nachwuchswissenschaftler (Post-Docs) und je zwei halbe Stellen für Doktoranden und Techniker.

In bisherigen Untersuchungen haben Birbaumer und Kollegen beobachtet, dass zwanzig bis dreißig Prozent der Menschen, die nicht mehr kommunizieren können, weil sie im Wachkoma liegen, und Menschen, die durch die Muskellähmung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) von der Welt abgeschnitten sind, ihre Umwelt durchaus wahrnehmen. „Die Personen verlieren den Willen zu kommunizieren, weil sie keinen Erfolg mit ihren Versuchen haben“, sagt Birbaumer. Er möchte die Reflexe dieser Menschen zur Kommunikation aktivieren. Dazu spricht man ihnen Sätze vor, auf die sie mit „Ja“ oder „Nein“ denkend antworten können, etwa: „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“, oder: „Berlin ist die Hauptstadt Frankreichs“. Über die Hirnsignale lernen die Wissenschaftler, ein „Ja“ von einem „Nein“ zu unterscheiden, und bieten dann auch Aussagen an wie „Ich möchte anders liegen“ oder „Ich bin traurig“, auf die ebenfalls Ja- und Nein-Hirnsignale folgen. Ähnliche Versuche plant Birbaumer mit Kleinkindern, die noch nicht sprechen können, aber eine blinde oder sonst in ihrer Wahrnehmung eingeschränkte Mutter haben. Mit Computerhilfe soll die Mutter von ihrem Kind Signale bekommen, die ihr die Wünsche des Kindes deutlich macht. Da es sich bei diesen und den weiteren Experimenten um Versuche mit Menschen handelt, legt Birbaumer seine Pläne vorab der Ethikkommission der Universität vor.

Birbaumer und seine Mitarbeiter haben auch Experimente mit Schwerverbrechern in Strafanstalten gemacht. Seine These ist, dass bei diesen Menschen Furcht-Reaktionen nicht funktionieren. Die Aktivität von mit der Furcht verbundenen Arealen des Gehirns will Birbaumer mit solchen Probanden trainieren. Dabei helfen ihm die „geradezu paradiesischen Zustände“ der Geräteausstattung der Universität Tübingen, etwa der funktionale Magnetresonanztomograph (fMRT) und das Magnetoenzephalogramm (MEG). Ob Birbaumer mit seinen Methoden eine Neigung zur Gewalttätigkeit allerdings auf Dauer dämpfen kann, will er durch seine Forschungen erst herausfinden. Weitere Versuche sollen etwa Pädophilen helfen, ihre sexuellen Neigungen zu steuern, oder krankhaft Fettsüchtigen beibringen, den Drang zum Essen zu unterdrücken.

Hinter diesen klinischen Zielen stehen grundsätzliche Fragen der Klinischen Neurobiologie. Birbaumer: „Es gibt die verbreitete Vorstellung, ein bestimmter Teil des Gehirns sei für ein Verhalten verantwortlich. In Wirklichkeit aber sind es Verbindungen, etwa die Verbindungen des Furchtsystems oder – bei Pädophilen – des Sexualsystems. Eine Frage ist: Kann man lernen, diese Verbindungen wieder herzustellen oder dauerhaft zu unterbrechen.“ Außerdem beschäftigt ihn das Phänomen des Willens: Kann ein Mensch nach langen Phasen der Lähmung und dem Verlust des zielgerichteten Denkens so etwas wie Intention oder Willen wieder lernen? Wie entwickeln sich Willenshandlung und Selbstkontrolle am Anfang des Lebens, bei Kleinkindern, und an dessen Ende, bei Menschen mit Demenz? Und welche Lernstrategien helfen am besten, zwanghaft wiederholte, destruktive oder selbstzerstörerische Handlungsweisen zu verändern? Diesen Fragen nachzugehen, hilft ihm das Reinhart-Koselleck-Projekt, dessen Förderung bis Ende 2015 läuft.

Kontakt:
Prof. Dr. Niels Birbaumer
Universität Tübingen
Institut für Medizinische Psychologie
Gartenstraße 29 • 72074 Tübingen
Telefon +49 7071 29-74219
E-Mail http://niels.birbaumer[at]uni-tuebingen.de
Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Leiterin Myriam Hönig
Abteilung Presse, Forschungsberichterstattung, Information
Michael Seifert
Telefon +49 7071 29-76789
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Weitere Informationen:

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