Dr. Leopold Lucas-Preis 2012 wird an die amerikanische Philosophin Seyla Benhabib verliehen

Der mit 50.000 Euro dotierte Dr. Leopold-Lucas-Preis geht in diesem Jahr an die amerikanische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib. Sie erhält den Preis, wie es in der Verleihungsurkunde heißt, „in Würdigung ihrer luziden Analysen des problematischen Spannungsfeldes zwischen globalisierter Welt und souveränen Demokratien, ihrer diskursethischen Begründung universeller Menschenrechte im Kontext moderner Zivilgesellschaften und ihres moralisch-lobbyistischen Engagements für ein staatsbürgerliches Recht auf Gastfreundschaft zugunsten des politisch und kulturell Anderen, der Flüchtlinge, Asylsuchenden und Immigranten.“ Seyla Benhabib lehrt seit 2001 Politische Wissenschaft und Philosophie an der Yale University.

Der Festakt aus Anlass der Preisverleihung findet am Dienstag, 7. Mai, um 17.15 Uhr im Festsaal der Neuen Aula, Geschwister-Scholl-Platz statt. Die Laudatio auf den Preisträger hält der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Prof. Dr. Volker Drehsen. Seyla Benhabib hält anschließend den Festvortrag zum Thema: „Die Würde des Menschen und der Souveränitätsanspruch der Völker. Aporien der politischen Moderne“.

Der Dr. Leopold-Lucas-Preis würdigt alljährlich hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Theologie, der Geistesgeschichte, der Geschichtsforschung und der Philosophie. Er ehrt dabei insbesondere Persönlichkeiten, die zur Förderung der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern wesentlich beigetragen und sich durch Veröffentlichungen um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben. Die Auszeichnung wurde 1972 von dem am 9. Juli 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Universität Tübingen, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas gestiftet.

Die Evangelisch-Theologische Fakultät vergibt den Preis alljährlich im Namen der Universität Tübingen. Zu den bisherigen Preisträgern gehörten prominente Gelehrte wie Schalom Ben-Chorin (1974), Karl Raimund Popper (1981), Karl Rahner (1982), Fritz Stern und Hans Jonas (1984), Paul Ricoeur (1989), Michael Walzer (1998), André Chouraqui (1993), Moshe Zimmermann (2002), Yosef Hayim Yerushalmi (2005) und Dieter Henrich (2008) sowie Repräsentanten des religiösen und kirchlichen Lebens wie der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso (1988), der polnische Erzbischof Henryk Muszynski (1997) und der evangelische Bischof Eduard Lohse (2007) oder Vertreter aus Kultur und Politik wie der frühere senegalesische Staats-präsident und Dichter Léopold Sédor Senghor (1983) und der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (2000). Der Preisträger des vorigen Jahres war der israelische Philosoph Avishai Margalit.

Seyla Benhabib wurde im Jahr 1950 in eine sephardisch-jüdische Familie in Istanbul geboren. Nach einem Bachelor-Studium der Geisteswissenschaften am Istanbuler American College for Girls (B.A. 1970) setzte sie ihr Philosophiestudium zunächst an der Brandeis University im US-Bundesstaat Massachusetts fort (B.A. 1972). Sie schloss ihr Studium an der Yale University in New Haven mit einer Dissertation über Hegels Rechtsphilosophie ab (Ph.D. 1977), nachdem sie zwei Jahre lang als Alexander von Humboldt-Stipendiatin am Max Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter dem Direktorat des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker am Starnberger See verbracht hatte.

Es folgten in rascher Abfolge Assistenzprofessuren an der Yale University (1977-1979) und an der Universität von Boston (1981-1985), bevor sie als Associate Professor für Politische Theorie in Harvard (1987-1989), anschließend als Associate Professor für Philosophie und Frauenstudien an der Staatsuniversität von New York (1989-1991) tätig wurde. Im Jahr 1991 nahm sie einen Ruf auf die Professur für Politische Wissenschaften und Philosophie der New School for Social Research in New York an, wechselte zwei Jahre später auf die Professur für Politische Theorie am Department of Government der Harvard University, wo sie zugleich Senior Research Fellow am Zentrum für Europäische Studien wurde (1993-2001). Seit 2001 lehrt sie Politische Wissenschaften und Philosophie auf der Eugene Meyer Professur der Yale University in New Haven (Connecticut), wo sie von 2002 bis 2008 zugleich Direktorin des Programms für Ethik, Politik und Wirtschaft war.

Seyla Benhabibs Publikationen zum Zusammenleben von Zivilgesellschaften, die immer wieder im Zeichen von Globalisierung, internationaler Migrationsströme und anwachsender Multikulturalität mit Spannungen und Konflikten zwischen unterschiedlichen Werte-Orientierungen von Individuen und Gruppen belastet sind, haben weltweit und vielfach Beachtung gefunden. Im Mittelpunkt ihres Denkens steht die diskursethische Begründung und Durchsetzung eines Menschenrechts auf Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, eines universalen Anspruchs, dem moralisch und rechtspolitisch ein Vorrang gegenüber den bedingt berechtigten Interessen einzelner souveräner Demokratien an der Regelung ihrer Staatsbürgerzugehörigkeit gebührt.

Das politische Denken Seyla Benhabibs stellt sich vor allem den Widersprüchen und Konflikten, die sich aus dem Prozess der Globalisierung in ihren Auswirkungen auf die politische Kultur liberaler Demokratien ergeben: Wie gehen diese mit Minderheiten und solchen Menschen um, die durch Flucht und Vertreibung Gefahr laufen, den Schutz der Menschenrechte zu verlieren? Wie ist ein zivilgesellschaftliches Zusammenleben möglich angesichts der zunehmenden Konfrontation mit dem Fremden, mit der andersartigen Lebensweise und Werte-Orientierung etwa von Migranten, Flüchtlingen, Exilanten und Asylsuchenden? Welche staatsbürgerlichen Rechte sind ihnen zuzubilligen? In welchem Verhältnis stehen dabei demokratische Staatsbürgerrechte und universelle Menschenrechte? Kann ein noch so liberales politisches System seine Identität und Souveränität bewahren, wenn es seine Grenzen bedingungslos öffnet und die Identitätsansprüche des Anderen vorbehaltlos anerkennt?

Solchen und ähnlichen Fragen, die sich gegenwärtig besonders in der Konfrontation Europas mit der islamischen Kultur in immer wieder neuen, exemplarischen Varianten stellen, geht die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib nach, indem sie die argumentative Diskussion politischer Prinzipien und Beurteilungskriterien mit luziden Analysen aktueller, brisanter Fallbeispiele (wie etwa den württembergischen Kopftuchstreit der Fereshta Ludin) verbindet. Deutlich wird dabei ihr philosophisches Engagement für die universellen Menschenrechte, auf die sich im konkreten Einzelfall zurück zu besinnen, die Vorherrschaft der bloß ökonomistischen Sichtweise auf die Globalisierung unterläuft. Der Durchlässigkeit der Grenzen muss auch rechtspolitisch und moralisch Rechnung getragen werden. Gegenüber nationalen Gesetzgebungen tritt Seyla Benhabib entschieden als Lobbyistin der internationalen Menschenrechte auf. In diesem Zusammenhang plädiert sie im Anschluss an Kants Essay „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 für die Gewährung eines Weltbürgerrechts auf Gastfreundschaft unter den Bedingungen einer globalisierten Welt – nicht als Inbegriff einer sozialen Tugend der Menschenfreundlichkeit gegenüber dem Fremden, sondern als Verwirklichung des elementaren Rechts der Anderen, „Rechte zu haben“ (H. Arendt).

Dr. Leopold Lucas wurde am 18. September 1872 in Marburg geboren. Er entstammte einer seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Marburg ansässigen jüdischen Familie. Lucas studierte in Berlin Geschichte und jüdische Wissenschaft sowie Philosophie und orientalische Sprachen. 1895 wurde er in Tübingen mit einer Dissertation über die „Geschichte der Stadt Tyrus zur Zeit der Kreuzzüge“ zum Doktor der Philosophie promoviert. Im Jahre 1899 wurde er als Rabbiner nach Glogau berufen. Er diente dieser traditionsreichen jüdischen Gemeinde vier Jahrzehnte lang als Lehrer, Prediger und Seelsorger. Unermüdlich war Leopold Lucas während seines ganzen Lebens wissenschaftlich tätig. Sein besonderes Arbeitsgebiet war die Geschichte der Juden in den ersten christlichen Jahrhunderten. Lucas war 1902 Initiator der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“, deren Leitung er sich mit Martin Philippson teilte. Im Jahr 1940 folgte Lucas einem Ruf an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin – zu einer Zeit also, in der die Vernichtung der Juden in Deutschland beschlossene Sache war und begonnen hatte. Am 17. Dezember 1942 wurde Leopold Lucas zusammen mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert. Auch hier wirkte er noch als Seelsorger seiner Leidensgenossen. Er erlag am 13. September 1943 den Strapazen des Konzentrationslagers. Frau Dorothea Lucas wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz verschleppt und umgebracht.

Weitere Informationen zu Seyla Benhabib:
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