Von der Lautanalyse bis zur Nikotinsucht

Neue Schwerpunktprogramme der DFG widmen sich zukunftsträchtigen Forschungsfragen

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wird ab Anfang 2006 sechzehn neue Schwerpunktprogramme fördern. Dies beschloss der Senat der DFG in seiner Sitzung am 12. Mai. Die Programme wurden aus 53 eingereichten Konzepten ausgewählt und werden mit einem Finanzvolumen von rund 48 Millionen Euro für die ersten beiden Jahre gefördert. Die Zahl der insgesamt geförderten Schwerpunktprogramme liegt mit den neuen Bewilligungen bei 98. Schwerpunktprogramme dienen der deutschlandweiten und internationalen Vernetzung von Forschungsaktivitäten in einem umgrenzten Themengebiet. Sie sollen durch die koordinierte, ortsverteilte Förderung wichtiger neuer Fragestellungen spürbare Impulse zur Weiterentwicklung der Forschung geben. Die Laufzeit von Schwerpunktprogrammen beträgt in der Regel sechs Jahre.

Die neuen Schwerpunktprogramme im Einzelnen:

Geistes- und Sozialwissenschaften

Die Polis als spezifische Form der Bürgergemeinschaft im östlichen Mittelmeerraum steht im Zentrum des Schwerpunktprogramms „Die hellenistische Polis als Lebensform. Urbane Strukturen und bürgerliche Identität zwischen Tradition und Wandel“. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher haben sich zum Ziel gesetzt, das bisherige, eher statische Bild von Blüte und Verfall der griechischen Polis neu zu beleuchten und vorherrschende Stereotype zu revidieren. Durch einen innovativen methodischen Zugriff, der vor allem durch eine neuartige Vernetzung von archäologischer und historischer Forschung gekennzeichnet ist, wollen sie zeigen, dass die historische Entwicklung der hellenistischen Bürgergemeinden und ihrer städtischen Zentren als ein Prozess zu sehen ist, der in der Epoche des Hellenismus an Dynamik eher noch gewonnen hat. Es wird erwartet, dass diese Arbeiten, in die auch wissenschaftliche Kooperationspartner in zahlreichen Ländern des Mittelmeerraums eingebunden sind, weit über die Fachgrenzen der Altertumswissenschaften hinaus Bedeutung gewinnen werden. (Koordinator: Prof. Dr. Martin Zimmermann, Universität München)

Das Schwerpunktprogramm „Sprachlautliche Kompetenz: Zwischen Grammatik, Signalverarbeitung und neuronaler Aktivität“ befasst sich mit der sprachlichen Lautanalyse, also mit der Frage nach dem lautlichen Code, mit dessen Hilfe ein Sprecher eine Botschaft artikuliert und ein Hörer die Botschaft wieder entschlüsselt. Dieser Code ist bereits in unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern untersucht worden – so etwa in der Phonologie, der Phonetik und der Psychologie – die sich jedoch bisher weitgehend getrennt voneinander entwickelt haben. Ziel des Schwerpunktprogramms ist es, diese unterschiedlichen Methoden und Forschungskulturen zusammenzuführen und so zu einem neuen Verständnis der menschlichen Sprachfähigkeit zu gelangen. (Koordinatoren: PD Dr. Hubert Truckenbrodt, Universität Tübingen, und Prof. Dr. Richard Wiese, Universität Marburg)

Ein Phänomen der weltweit zu beobachtenden Urbanisierungsprozesse sind die so genannten Megastädte. Diese überdimensionierten Orte mit hoher Konzentration von Bevölkerung, Infrastruktur und Kapital sowie exzessiver Beschleunigung aller Entwicklungsprozesse führen zu einer zunehmenden sozialen Fragmentierung und sind immer weniger steuer- und regierbar. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Prozesse ungeregelt und informell ablaufen. Das Schwerpunktprogramm „Megastädte: Informelle Dynamik des globalen Wandels“ untersucht diese hochkomplexen Prozesse am Beispiel der mega-urbanen Regionen Dakha in Bangladesh und Perlflussdelta (Guangzhou, Shenzhen und Hong Kong) in China. Ziel ist, mit einem interdisziplinären Zugang ein neues methodisches Fundament zu erarbeiten und damit zu einem vertieften Verständnis der Dynamiken in Megastädten zu gelangen. (Koordinatorin: Prof. Dr. Frauke Kraas, Universität zu Köln)

Lebenswissenschaften

Das Schwerpunktprogramm „Mechanismen des Zelleintritts und der Persistenz von Genvektoren“ unternimmt den Versuch, die Grundlagen der somatischen Gentherapie mit aktuellen Methoden systematisch genauer zu untersuchen und zu verbessern. Genvektoren können Gene gezielt und unbeschadet in Zellen einschleusen, was sie zu einem attraktiven Werkzeug bei der Therapie von Erbkrankheiten macht. Ihr Nutzen ist unstrittig; ihre möglichen negativen Auswirkungen sind jedoch noch weitgehend unerforscht. Bei dem bewusst ergebnisoffen angelegten und international vernetzten Projekt stehen Fragen der Dosierung, Beständigkeit und Integration von Genvektoren im Zentrum. Es könnte nicht zuletzt die wichtige Rolle Deutschlands als Standort gentherapeutischer Forschung festigen helfen. (Koordinator: Prof. Dr. Christopher Baum, Medizinische Hochschule Hannover)

Wie entstehen Metastasen? Und inwieweit ist das Wachstum von Blutgefäßen innerhalb des Tumors für dessen Ausweitung verantwortlich? Zur Klärung dieser Fragen will das Schwerpunktprogramm „Mechanismen der Tumor-Gefäß-Interaktion bei Tumorprogression und Metastasierung“ die besten Forschergruppen zusammenführen, die in Deutschland auf diesem Gebiet tätig sind. Auf dem neuesten Stand der Technik sollen klassische Erkenntnisse zum Gefäß-Wachstumsfaktor (VEGF) ebenso wie neue, Erfolg versprechende Methoden herangezogen werden, die den Zusammenhang von Metastasenbildung und Entstehung neuer Lymphgefäße (Lymphangiogenese) beleuchten: ein Aspekt, dessen große Bedeutung erst in den letzten Jahren erkannt worden ist. Ziel ist es, der Krebsforschung neue Impulse zu verleihen. (Koordinator: Prof. Dr. Hellmut Augustin, Universität Freiburg)

Moderne Methoden im Bereich der Molekularbiologie und der Bildgebung ermöglichen ein neues Angehen alter, aber nach wie vor aktueller Fragen auf dem Gebiet der Suchtforschung. Was bereits zu neuen Erkenntnissen über die Alkoholsucht geführt hat, soll nun im Schwerpunktprogramm „Nikotin: Molekulare und physiologische Wirkungen im Zentralnervensystem“ das Verständnis der eigentlich ersten großen „Volkssucht“, der Nikotinabhängigkeit, erweitern. Das Projekt ist nicht nur wissenschaftlich ambitioniert. Auch unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten stellt es ein wichtiges Unterfangen im Hinblick auf die Bekämpfung der Zigarettensucht und ihrer vielfältigen gesundheitlichen Folgen dar. (Koordinator: Prof. Dr. Georg Winterer, Universität Mainz)

Naturwissenschaften

Im Zentrum des Schwerpunktprogramms „Quantentransport auf molekularer Ebene“ steht die Erforschung der quantenmechanischen Übermittlung von Elektronen. Es wendet sich somit einem der aktuellsten und zukunftsweisendsten Themen dieser Art im Grenzbereich von Physik, Chemie und Materialwissenschaften zu, dessen Auswirkungen sich erst in einigen Jahrzehnten in voller Tragweite zeigen werden. Ziel des Programms ist nicht zuletzt, die Entwicklung jenes Zweigs der Nanotechnik voranzutreiben, der das Molekül als Funktionseinheit der Elektronik etablieren will. Durch seine Vernetzung experimenteller und theoretischer Modelle setzt es neue Standards und könnte helfen, Deutschland auf dem Gebiet einer nicht-siliziumbasierten und damit wesentlich kostengünstigeren Technologie an die Weltspitze anzuschließen. (Koordinator: Prof. Dr. Thomas Frauenheim, Universität Paderborn)

Anhand neuester Satellitendaten, unter anderem aus den Missionen zur Schwerkraftmessung „CHAMP“, „GRACE“ und „GOCE“, erforscht das Schwerpunktprogramm „Massentransport und Massenverteilung im System Erde“, wie Ozeane, Eisschelfs, das Erdinnere und dynamische Prozesse auf der Erdoberfläche zusammenhängen. Dazu kommen in dem in Bonn koordinierten interdisziplinären Programm erstmals Geodäten, Ozeanografen, Hydrologen, Glaziologen, Geophysiker und andere – insbesondere junge – Geowissenschaftler zusammen, um Daten auszuwerten, Modelle zu entwickeln und auch komplexe überlagerte Signale richtig zu interpretieren. (Koordinator: Prof. Dr. Karl-Heinz Ilk, Universität Bonn)

Um die Eigenschaften und die Synthese von Stoffen, die in der Erdkruste unter sehr hohen Drucken und Temperaturen entstehen, dreht sich das Schwerpunktprogramm „Strukturen und Eigenschaften von Kristallen bei extrem hohen Drücken und Temperaturen“. Mineralogen und Materialwissenschaftler wenden sich zusammen mit Festkörperchemikern unter anderem der Herstellung und den Eigenschaften neuartiger Materialien sowie deren Vorhersage durch Ab-initio-Rechnungen zu. Der wissenschaftliche Zugewinn kommt – durch ein besseres Verständnis des Erdmantels – nicht nur den Erdwissenschaften, speziell den Seismologen, zugute; die Untersuchungen von Karbonaten sind von hohem Wert für die Kohlendioxyd-Atmosphärenforschung. (Koordinator: Prof. Dr. Björn Winkler, Universität Frankfurt/Main)

Vor 90 Jahren galten die „Ionischen Flüssigkeiten“ noch als Laborkuriosa, heute beweisen neueste Forschungen, dass es sich bei diesen nicht-molekularen, flüssigen „Materialien“ um eine Stoffklasse mit neuartigen und für vielerlei Anwendungen perspektivreichen Eigenschaften handelt, die Chemiker, Verfahrenstechniker, aber auch Materialwissenschaftler, Physiker, Biologen und Mediziner gleichermaßen fasziniert. In dem in Erlangen-Nürnberg koordinierten Schwerpunktprogramm wird es darum gehen, das Grundlagenwissen über ionische Flüssigkeiten zu erweitern, aber auch darum, diese Erkenntnisse für die unterschiedlichsten Einsatzbereiche nutzbar zu machen. (Koordinator: Prof. Dr. Peter Wasserscheid, Universität Erlangen-Nürnberg)

„Intelligente Hydrogele“ ändern auf äußere Anregung hin ihr Volumen, aber auch andere Eigenschaften. Dies macht sie zu interessanten Werkstoffen für technische, biomedizinische und naturwissenschaftliche Anwendungen wie in Mikroventilen, in Sensoren, Detektoren oder zur kontrollierten und niveaustabilen Freisetzung von Medikamenten im Körper. Das gleichnamige Schwerpunktprogramm bestimmt und modelliert die Eigenschaften von Hydrogelen und erarbeitet Synthesestrategien. Dadurch soll auf diesem hochaktuellen Gebiet in Deutschland der Weg für international richtungsweisende Forschungsarbeit geebnet werden. (Koordinator: Prof. Dr. Gabriele Sadowski, Universität Dortmund)

„Optimierungsprozesse mit partiellen Differentialgleichungen“ gehören derzeit zu den größten Herausforderungen bei Anwendungen in Industrie, Wirtschaft und Medizin. Der innovative Ansatz dieses von Mathematikern und Ingenieuren verfolgten interdisziplinär ausgerichteten Schwerpunktprogramms besteht darin, nicht mehr die Optimierung der Einzelkomponenten komplexer Systeme und Anwendungen getrennt voneinander zu verfolgen. Vielmehr zielen die Forscher darauf ab, das Zusammenspiel von Optimierungsverfahren und numerischen Simulationen, wie sie etwa im Flugzeugbau zur Anwendung kommen, selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchung zu machen: ein europaweit einzigartiger Ansatz, der erst durch die Entwicklung schnellerer Rechnertechnik sowie effizienterer Algorithmen für die betroffenen Teilsysteme in den letzten Jahren möglich geworden ist. (Koordinator: Prof. Dr. Günter Leugering, Universität Erlangen-Nürnberg)

Ingenieurwissenschaften

Die Interaktion und der dauerhafte Dialog zwischen Biologie und Ingenieurwissenschaften stehen im Mittelpunkt des Schwerpunktprogramms „Strömungsbeeinflussung in der Natur und Technik“. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen Beispiele aus der Natur als Vorbilder für technische Lösungsansätze nutzen, ein als Bionik oder Biomimetik bekanntes Verfahren. Bei umströmten Körpern führt der Einsatz biologischer Oberflächenstrukturen, zum Beispiel bei Turbinenschaufeln, zur Reduzierung des Strömungswiderstandes und zur Geräuschminimierung. Die Ingenieurwissenschaften geben ihrerseits Anstöße für neue Methoden und Erkenntnisse in den Biowissenschaften. (Koordinator: Prof. Dr. Cameron Tropea, Technische Universität Darmstadt)

Materialien, die in magnetischen oder elektrischen Feldern ihre Form und Ausdehnung ändern können, finden beispielsweise in Rastertunnelmikroskopen oder Einspritzventilen Anwendung. In Zukunft könnten die Fertigungstechnik oder die minimalinvasive Chirurgie weitere Anwendungsfelder sein. Im Schwerpunktprogramm „Änderung von Mikrostrukturen und Form fester Werkstoffe durch äußere Magnetfelder“ arbeiten Werkstoffwissenschaftler, Ingenieure, Mathematiker, Physiker und Chemiker gemeinsam an dieser sich entwickelnden Schlüsseltechnologie und vernetzen dabei von der materialwissenschaftlichen Grundlagenforschung bis zur Bauteil-Konzeption ihre Kenntnisse. (Koordinator: Dr. Sebastian Fähler, IWF Dresden)

„Algorithmen zur schnellen, werkstoffgerechten Prozesskettengestaltung und -analyse in der Umformtechnik“ ist der Titel des neuen, in Freiberg koordinierten Schwerpunktprogramms. Hier geht es vor allem darum, Herstellungs- und Weiterverarbeitungsvorgänge schnell simulativ zu erfassen. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher wollen auf die jeweiligen Prozesse abgestimmte Simulationssysteme aufstellen, die zur Betrachtung der gesamten Prozesskette, aber auch zur Steuerung und Regelung umformtechnischer Anlagen geeignet sind. (Koordinator: Prof. Dr. Rudolf Kawalla, TU Bergakademie Freiberg)

Um die Forschung an „Ultrabreitband-Funktechniken für Kommunikation, Lokalisierung und Sensorik“ deutschlandweit zu vernetzen, arbeiten in dem gleichnamigen Schwerpunktprogramm Elektro- und Informationstechniker zusammen. Ziel ist dabei, die Grundlagen der Ultrabreitband-Technik zu erforschen und deren Potenzial in neuen Anwendungsfeldern zu erschließen. Forschungsziele sind beispielsweise Positionierungs- und Navigationsverfahren mit extrem hoher Auflösung. In der Sensorik wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Interaktion des Ultrabreitband-Wellenfelds mit Materialien und Objekten untersuchen. (Koordinator: Prof. Dr. Reiner Thomä, Technische Universität Ilmenau)

Media Contact

Dr. Eva-Maria Streier idw

Weitere Informationen:

http://www.dfg.de/

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