Merckle-Forschungspreis 2003 vergeben

Kopf auf dem Hals, orange-gelbe Halbleiterlaser und andere Entdeckungen

Zum 22. Mal verleiht die Universität Ulm am 10. November 2003 den von der Firma Merkle GmbH Blaubeuren gestifteten Merckle-Forschungspreis. In die Preissumme von 20.000 Euro teilen sich Prof. Dr. Michael Kühl, PD Dr. Thomas Seufferlein, PD Dr. Wolfgang Weidemann und die Arbeitsgruppe Prof. Dr. Peter Unger und Dr.-Ing. Rainer Michalzik.

Warum der Kopf immer auf dem Hals sitzt

Ausgehend von der befruchteten Eizelle kommt es während der Entwicklung durch Zellteilungen zur Zellvermehrung. Parallel findet eine Spezialisierung dieser Zellen in unterschiedliche Gewebe und Organe statt. Interessanterweise wird während dieses Prozesses ein festgeschriebener Bauplan befolgt, der sicherstellt, daß bestimmte Organe immer an derselben Stelle innerhalb des Körpers zu finden sind. So liegt beispielsweise das Herz in der Regel auf der linken Körperseite, Arme und Beine sind verschieden, und der Kopf sitzt auf dem Hals. Abgesehen von individuellen Unterschieden wie beispielsweise einer unterschiedlichen Augenfarbe läuft dieser Prozeß für alle Lebewesen einer Spezies immer gleich ab.

Woher weiß eine Zelle, die sich in einem Embryo befindet, zu welcher spezialisierten Zelle sie sich entwickeln soll? Damit die Prozesse in geregelten Bahnen ablaufen, kommunizieren Zellen untereinander und tauschen Informationen aus. Sie verwenden dafür Signalmoleküle. Mit solchen Signalmolekülen sowie Prozessen der Signalübermittlung während der embryonalen Entwicklung befassen sich die Arbeiten von Prof. Dr. Michael Kühl (Abteilung Biochemie der Universität Ulm). Im Zentrum stehen sogenannte Wachstumsfaktoren der Wnt-Familie (sprich: Wind-Familie). Von dieser Proteinfamilie kennt man beim Menschen 19 Vertreter, die innerhalb einer Zelle verschiedene Antworten auslösen können. Teile der zellulären Antwort konnten schon sehr gut beschrieben werden. Kühl möchte bisher unbekannte Wnt-Signalwege aufklären. In den letzten Jahren konnte er eine ganze Reihe an Molekülen identifizieren bzw. charakterisieren, die in diese Prozesse involviert sind.

Als Modellsystem zur Untersuchung der embryonalen Entwicklung wird in der Abteilung Biochemie der Frosch Xenopus laevis verwendet. Da die Entwicklung dieses Tieres außerhalb des Mutterleibes erfolgt, lassen sich die einzelnen Schritte der Embryogenese leicht beobachten. Kühl und Mitarbeitern gelang es, die Wnt-Signalwege für die Ausbildung von Herzmuskelzellen zu beschreiben. Eine Unterdrückung dieser Signalwege führt zu schweren Fehlern während der Herzentwicklung. Umgekehrt führt eine Aktivierung zur Ausbildung von schlagenden Herzmuskelzellen aus wenig spezialisierten embryonalen Vorläuferzellen. Experimente mit Mauszellinien zeigten, daß diese Signalwege auch in anderen Spezies aktiv sind.

Kühls Arbeiten haben eine direkte medizinische Implikation. Verschiedene Erkrankungen des Herzens, wie z.B. der Herzinfarkt, führen zum Untergang und Verlust von Herzmuskelzellen, die der Körper nicht neu bilden kann, so daß der überlebende Patient möglicherweise mit schweren Einschränkungen der Herzleistung leben muß. Neuere Ansätze in der Medizin versuchen jetzt, Herzmuskelzellen aus Stammzellen (z. B. Knochenmarkstammzellen) zu generieren und für die Transplantation bereitzustellen. Die Erkenntnisse von Prof. Kühl könnten die Identifikation von Molekülen ermöglichen, die zu einer vermehrten Bildung von Herzmuskelzellen beitragen.

Signalmoleküle, die das Tumorwachstum beeinflussen

Tumorerkrankungen können als Folge einer fehlregulierten Signalübertragung in den Zellen verstanden werden. In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl intrazellulärer Signalwege entdeckt und charakterisiert, die Zellwachstum, Zellmigration und auch Zelltod vermitteln. PD Dr. Thomas Seufferlein, Abteilung Innere Medizin I der Universität Ulm, Leiter des Labors für gastrointestinale Wachstumsregulation, und Mitarbeiter beschäftigen sich in einem Schwerpunkt mit einer bestimmten Klasse dieser Signalmoleküle, den sogenannten Proteinkinasen. Infolge der herausragenden Rolle, die sie bei der Signalübertragung in der Zelle spielen, eignen sich diese Enzyme besonders gut als mögliche Zielobjekte für neue therapeutische Strategien.

Die Gruppe sucht nach Proteinkinasen, die als Signalmoleküle das Wachstum von Tumoren des Magens-Darm-Traktes, insbesondere des Pankreas, beeinflussen. Der Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine tückische, weithin therapieresistente Erkrankung. Seufferlein gelang es zu zeigen, daß durch Wachstumsfaktoren wie den Tumor Growth Factor Alpha, die von den Tumorzellen selbst produziert werden und wiederum die Tumorzellen stimulieren, Proteinkinasen massiv aktiviert werden. Durch Blockade dieser Enzyme läßt sich das Wachstum von Pankreastumorzellen deutlich hemmen. Substanzen, die imstande sind, die Blockade zu bewirken, werden inzwischen in klinischen Studien getestet. Die in Bauchspeicheldrüsentumoren exprimierten, von Seufferlein und Mitarbeitern aufgespürten Proteinkinasen wurden kloniert und werden gegenwärtig in verschiedenen Modellsystemen funktionell charakterisiert.

Einen weiteren Schwerpunkt der Seufferlein-Gruppe bilden das Zytoskelett, das Stütz- und Strukturgerüst von Tumorzellen und seine einzelnen Bestandteile. Die Arbeiten haben gezeigt, daß Aktin-Zytoskelett eine wesentliche Rolle beim Wachstum von Tumorzellen der Bauchspeicheldrüse spielt. Infolgedessen könnten Substanzen, die mit dem Aktin-Zytoskelett interferieren, Bedeutung für die Krebstherapie der Zukunft erlangen. Überdies gelang es der Arbeitsgruppe, eine weitere Komponente des Zytoskeletts, das sogenannte Keratin-Zytoskelett, in seiner Funktion für Tumorzellen erstmals zu charakterisieren.

Keratine sind offensichtlich für das elastische Verhalten von Tumorzellen maßgeblich. Es zeigte sich, daß ein bioaktives Lipid, Sphingosylphosphorylcholin, das Keratin-Zytoskelett von Tumorzellen so verändern kann, daß die Zellen elastischer, „weicher“ werden. Dieses Lipid findet sich in erhöhter Konzentration im Blut von Patienten mit Tumorerkrankungen. Der „Weichmachereffekt“ unterstützt die Ausbreitung von Tumorzellen in andere Organe, die Metastasierung, da für das Eindringen der Zellen in das Gefäßsystem ihre erhöhte Verformbarkeit vorteilhaft ist. Weitergehende Untersuchungen müssen zeigen, ob sich dieser Mechanismus im Sinne der Krebstherapie gezielt beeinflussen läßt.

Laser für die optische Datenübertragung, Umweltmeßtechnik und Prozeßüberwachung

Halbleiterlaser zeichnen sich durch kleine Abmessungen, niedrigen Preis, hohe Zuverlässigkeit, hervorragenden Wirkungsgrad und elektronische Modulierbarkeit bis hin zu höchsten Bitraten aus. Anwendungen finden sie als Sendeelemente bei der optischen Nachrichtentechnik, bei der optischen Datenspeicherung (CD, DVD), als Pumpquellen für Festkörperlaser und Faserverstärker und in der Materialbearbeitung. Dr.-Ing. Rainer Michalzik und Prof. Dr. Peter Unger, Abteilung Optoelektronik der Universität Ulm, entwickeln mit ihren Arbeitsgruppen die Technologie der Halbleiterlaser weiter und suchen dabei auch nach Möglichkeiten, ihnen neuartige Anwendungsfelder zu erschließen, zum Beispiel in optischen Bussystemen der Computer, in der optischen Sensorik, in der optischen Kommunikation zwischen Satelliten oder als Rot-Grün-Blau-Lichtquellen für Projektionsdisplays.

Einer Steigerung der Ausgangsleistung von Halbleiterlasern gelten die Untersuchungen der Arbeitsgruppe Hochleistungs-Halbleiterlaser (Prof. Unger). Leistungssteigerungen, die durch Vergrößerung der Emissionsfläche oder Parallelschaltung mehrerer Elemente bewirkt werden, führen zur Verminderung der Strahlqualität des emittierten Lichts mit der Folge unzureichender Fokussierbarkeit und herabgesetzter Brillanz des Laserstrahls. Unger und Mitarbeiter haben optische Verstärker (Halbleiterchips) für Laser mit hervorragender Strahlqualität, jedoch kleiner Ausgangsleistung entwickelt. Solche Systeme sind in erster Linie für die Freistrahl-Datenübertragung beispielsweise zwischen Satelliten interessant. Ein Laserresonator mit gekrümmten statt der üblicherweise verwendeten planaren Spiegel bildet das Kernstück eines anderen Konzepts mit der Zielstellung höherer Strahlqualität. Dafür bedarf es extrem glatter und steiler Spiegelprofile, die sich mit einem eigens hierfür entwickelten hochpräzisen Plasmaätzverfahren strukturieren lassen. Geätzte Laserspiegel ermöglichen zudem die monolithische Integration von Halbleiterlasern, das heißt ihre Anordnung auf einem gemeinsamen Kristall, wodurch sich neue Funktionsmöglichkeiten ergeben. Seit einigen Jahren beforscht die Gruppe ein völlig neuartiges Bauelement, den Halbleiter-Scheibenlaser, mit dem vor kurzem der weltweit erste Halbleiterlaser mit orange-gelber Emission entwickelt werden konnte. Praktische Bedeutung zeichnet sich dafür unter anderem in der Umweltanalytik, beispielsweise für die Detektion von Natrium ab.

Schwerpunkte von Dr.-Ing. Rainer Michalzik und seiner Mitarbeiter bilden Vertikallaserdioden sowie die optische Verbindungstechnik. Das Ziel sind Herstellung, Charakterisierung und Optimierung spezieller vertikal emittierender Laserdioden und integrierter Laser-Modulator-Kombinationen. Den Wissenschaftlern ist es gelungen, neuartige Ansätze für die hochbitratige optische Vernetzung von elektronischen Computersystemen darzustellen, wobei Datenraten von bis zu 40 Gbit/s übertragen werden. Spezielle Untersuchungen gelten zukünftigen optischen Übertragungsmedien mit Streckenlängen im Zentimeter- bis Kilometer-Bereich. Jenseits der optischen Datenübertragung eignen sich die im Reinraum der Universität Ulm hergestellten Laser überdies hervorragend zum Einsatz in der Umweltmeßtechnik und industriellen Prozeßüberwachung.

Wie beeinflussen männliche Sexualhormone das Herz-/Kreislauf-System?

Da Männer ein höheres Risiko für Herz-/Kreislauf-Erkrankungen haben als Frauen, wurde den weiblichen Sexualhormonen (Östrogenen) ein protektiver Effekt und den männlichen Sexualhormonen (Androgenen, vor allem Testosteron und Dihydrotestosteron) ein gefäßschädigender Effekt zugeschrieben. Zunehmend zeigt sich jedoch, daß eine derart vereinfachende Sichtweise den sehr komplexen Verhältnissen im Gefäßsystem nicht gerecht wird. Inzwischen mehren sich die Befunde, die für Androgene auch protektive Wirkungen vermuten lassen.

PD Dr. Wolfgang Weidemann, Abteilung Allgemeine Zoologie und Endokrinologie der Universität Ulm, hat in Zusammenarbeit mit PD Dr. Hartmut Hanke, Abteilung Innere Medizin II, in einem In-vitro-Modell der Kaninchenaorta gezeigt, daß Testosteron im männlichen Geschlecht eine Verringerung der arteriellen Plaquebildung bewirkt. Bei diesen Plaques handelt es sich um Gefäßablagerungen, die sich hier vor allem aus glatten Muskelzellen und umgebender Extrazellularsubstanz zusammensetzen. Sie entsprechen in ihrer Frühform der humanen Arteriosklerose, die zunächst zu einer Einengung des Blutgefäßlumens und im späteren Verlauf zu Herzinfarkt und Schlaganfall führen kann. Die Androgene scheinen den Forschungsarbeiten des Preisträgers zufolge ihre Plaque-reduzierende Wirkung vor allem über eine verringerte Bildung der Extrazellularsubstanz zu entfalten.

Besondere Aufmerksamkeit wandte Dr. Weidemann der Signalweiterleitung in den entsprechenden Zielzellen zu. Nach dem klassischen Modell binden die Androgene an intrazelluläre Rezeptorproteine. Nach Bindung dieser Hormon-/Rezeptor-Komplexe an spezifische Abschnitte der DNA kommt es zur Änderung der Expression der nachgeschalteten Gene und damit zur Bildung entsprechender Proteine, die dann wiederum wichtige Prozesse wie zum Beispiel die Zellteilung und die Bildung von Extrazellularsubstanz steuern können. Diese sogenannten genomischen Effekte nehmen meist einige Stunden in Anspruch. In verschiedenen Zielzellen kann Testosteron aber auch in das weibliche Sexualhormon 17-b-Östradiol umgewandelt werden, das nach Bindung an die Östrogenrezeptoren ebenfalls Einfluß auf die Genexpression nimmt. Zudem sind die gefäßprotektiven Testosteroneffekte auch nichtgenomisch (ohne Veränderung der Genexpression) vermittelbar. Meist handelt es sich hierbei um kurzfristige Wirkungen, die binnen Sekunden oder Minuten erfolgen.

Um diese Prozesse näher zu analysieren, hat die Arbeitsgruppe um Dr. Weidemann Gefäßzellen (Endothelzellen und glatte Muskelzellen) als Modellsysteme etabliert. Dabei zeigt sich schon jetzt, daß die Effekte einem sehr komplexen Muster folgen. Die neuerkannten und zum Teil unerwarteten Mechanismen der Signalweiterleitung in den Gefäßzellen machen diese Untersuchungen vor dem Hintergrund der potentiellen therapeutischen Bedeutung zu einem attraktiven Arbeitsgebiet im Grenzbereich zwischen Biologie und Klinik.

Media Contact

Peter Pietschmann idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-ulm.de

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