Forschen an der Revolution

Die Weltpolitik formulierte das Ende des fossilen Zeitalters bis 2100. Für die Energiesysteme bedeutet das nichts Geringeres als die Notwendigkeit einer Revolution. Im Bild: Offshore-Windpark in der Nordsee.

„Elmau hat geliefert“. Wenn sogar Greenpeace zufrieden twittert, dann müssen die Ergebnisse einer Klimakonferenz überzeugen.

Die Beschlüsse des G7-Gipfels, der im Juni 2015 auf Schloss Elmau in Oberbayern stattfand, sind von historischer Tragweite. Einstimmig erklärten die Staats- und Regierungschefs der G7-Länder die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2100 zum gemeinsamen Ziel.

Was – konsequent gedacht – nicht weniger heißt als ein kompletter, weltweiter Ausstieg aus fossilen Energieträgern wie Kohle, Erdgas und Erdöl. Das fossile Zeitalter wäre damit zu Ende. Für die Energiesysteme bedeutet das nichts Geringeres als die Notwendigkeit einer Revolution.

Energieversorgung im disruptiven Wandel

Ein ambitioniertes Ziel, das vieles erfordert, um nicht eine reine Vision zu bleiben. Es wird nicht ausreichen, verstärkt Windturbinen, Solaranlagen und Blockheizkraftwerke aufzubauen. Vielmehr setzt die Dekarbonisierung erhebliche technologische Fortschritte und Innovationen in der Energielandschaft voraus. Kein Wunder.

Noch zu Beginn der 1990er gab es in Deutschland nur rund hundert mittlere und große Kraftwerke, die Strom erzeugten. Mittlerweile ist die Zahl der Energielieferanten auf mehrere Millionen angestiegen.

„Wir müssen uns auf ein Energieversorgungssystem vorbereiten, das aus Millionen kleiner und größerer dezentraler Erzeugungseinheiten besteht. Das erhöht die technische Komplexität und damit auch die Anforderungen an unsere Energieinfrastruktur“, erklärt Professor Armin Schnettler, bei Siemens Corporate Technology zuständig für dieses spannende Thema. 

Er weiß, wovon er spricht: Schnettler und sein Team forschen unter der strategischen Ausrichtung „Energiewende 2.0“ an innovativen Lösungen, um Energiesysteme auf die dezentrale Zukunft der Stromversorgung aus erneuerbaren Energien vorzubereiten. „Wir stehen weltweit vor einer disruptiven Entwicklung in der Energieversorgung“, sagt er. Heutige Technologien könnten durch künftige Innovationen komplett verdrängt werden. Unter der Forschungsausrichtung Energiewende 2.0 identifizieren und entwickeln die Experten diese Technologien – und liefern ihren Kollegen in den Geschäftseinheiten bereits jetzt die Grundlagen dafür, sich für die Anforderungen dieser Technologien zu wappnen.

Simulation künftiger Energiesysteme und Strommärkte

„Heute wissen wir nicht, wie wir ein elektrisches Netz betreiben können, wenn Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien eingespeist wird“, erklärt Schnettler. Antworten liefert das Forschungsprojekt „Energy System Development Plan“ (ESDP). Hier simulieren Siemens-Forscher in enger Zusammenarbeit mit der RWTH Aachen ganzheitlich, wie sich ein hoher Anteil erneuerbarer Energien langfristig nicht nur auf die Erzeugung und Übertragung, sondern auch auf die Verteilung sowie den Markt auswirken wird. „Wir digitalisieren die kompletten heutigen Energiesysteme nebst ihren Entwicklungen und bilden sie in komplexen Simulationsmodellen ab“, fasst Schnettler zusammen.

„So sind wir in der Lage, technologische, wirtschaftliche und politische Herausforderungen zu prognostizieren, erwartbare Risiken und Unsicherheiten zu minimieren und dadurch eine stabile Energieversorgung zu sichern. Das Resultat ist ein klares Bild der Energiesysteme von morgen“. Mittel- und langfristig, ist sich Schnettler sicher, werden die Energiesysteme für Strom, Wärme und Kälte, Gas sowie Mobilität immer mehr zusammenwachsen und vielleicht sogar komplett neue Versorgungsstrukturen aufweisen.

IK-Technologien und Swarm Grids gewährleisten Versorgungssicherheit und Systemstabilität

Diese Entwicklung erfordert neue, übergreifende Infrastrukturen. Das zunehmende Abschalten netzstabilitätssichernder Kraftwerke verstärkt diesen Bedarf. Dezentrale Erzeugungseinheiten und Speicher, zusammengefasst zu „Schwärmen“, sind eine mögliche Lösung. Diese sogenannten Swarm Grids sind vergleichbar mit virtuellen Steuereinheiten. Sie beinhalten eine starke Vernetzung der vielen einzelnen Einheiten und erfüllen gleichzeitig die sehr hohen Anforderungen an Versorgungszuverlässigkeit und Systemstabilität. Dafür ist die Frage zentral, wie viel Entscheidungsautarkie einzelne Schwärme in Zukunft im Gesamtsystem bekommen können.

„Um Energiesysteme künftig sowohl im Normalbetrieb als auch im Fehlerfall stabil zu betreiben, müssen wir die Möglichkeiten von Elektronik, Leistungselektronik und IK-Technologien noch intensiver in die Energietechnik integrieren“, fordert Armin Schnettler. Dabei wird die immer leistungsfähigere Software ganz neue Möglichkeiten bieten. So erkennen die Siemens-Forscher einen klaren Trend hin zu „elektronifizierten“ Netzen, also dem vermehrten Einsatz leistungselektronischer Komponenten in der Stromversorgung. Deshalb treiben sie beispielsweise die Entwicklung neuer Konvertertechnologien voran. „Umrichter der neuen Generation sind weniger spezifisch in ihren Anforderungen, dadurch kostengünstiger und standardisiert“, erklärt der Experte.

Ideale Langzeitspeicher: chemische Speichertechnologien

Parallel dazu forscht Corporate Technology an chemischen Speichertechnologien. Denn je volatiler die Stromerzeugung durch regenerative Energieträger wird, desto wichtiger werden Lösungen, die helfen, elektrische Energie zu speichern und gleichzeitig die Systemstabilität zu sichern. „Ein Energiesystem mit 80 Prozent erneuerbarer Energien ist ohne effiziente Großspeichertechnologien nicht denkbar“, konstatiert Schnettler. Dass vor allem im Bereich der Speichertechnologien noch großer Forschungsbedarf besteht, unterstreicht die „Bilanz zur Energiewende 2015“ der deutschen Bundesregierung.

Das weiß auch Professor Maximilian Fleischer, in Armin Schnettlers Team verantwortlich für die Forschungseinheit Chemical and Optical Systems bei Corporate Technology. „Wir konzentrieren uns auf chemische Speicherlösungen, weil sie am besten dazu geeignet sind, in Zukunft große Energiemengen über einen langen Zeitraum zu speichern“, erklärt er. „Außerdem nutzen wir regenerativ erzeugten Strom, um schädliches CO2 in wertvolle Ressourcen umzuwandeln“. Dazu verwenden Fleischer und sein Team das Treibhausgas und erneuerbaren Strom in der Elektrolyse, um für die Industrie wertvolle Rohstoffe wie Kohlenmonoxid, Ethylen oder Alkohole herzustellen. „Erst langfristig erwarten wir eine wirtschaftliche Speicherung oder Wandlung in Form von Wasserstoff oder synthetischen Kraftstoffen“, so Fleischer.

Dekarbonisierung erfordert Innovationen im Gesamtsystem

Ob chemische Speichertechnologien, leistungsfähige Umrichter oder intelligente Netze – innovative Ideen und Technologien sind entscheidend, damit die Dekarbonisierung nicht nur ein theoretisches Konstrukt bleibt. Know-how und Lösungen, die die Siemens-Forscher entwickeln, bleiben jedoch nicht in der Forschungsabteilung, sondern werden an die Geschäftseinheiten weitergegeben. So sichert Siemens sein Geschäft von morgen.

Wichtig aber ist: Einzelne, isolierte Technologien werden nicht ausreichen, das post-fossile Zeitalter einzuläuten. „Unser Ansatz muss ein ganzheitlicher sein“, erklärt Schnettler. „Die Dekarbonisierung erfordert Innovationen im Gesamtsystem.“ Nur so gelingt die Revolution der Energiesysteme. Und nur so bleibt die Dekarbonisierung nicht lediglich eine Vision, sondern wird zur strategischen Zielrichtung – auch innerhalb von Siemens.

Ulrich Kreutzer

https://www.siemens.com/innovation/de/home/pictures-of-the-future/forschung-und-management/innovationen-energiesysteme-der-zukunft.html?WT.mc_id=Siemens+Pictures+of+the+Future+Newsletter%3a+Die+Zukunft+der+Energiesysteme

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