Die Zukunft von Öl und Gas: Die letzte Offshore-Arbeiterin

Ausgediente Ölplattformen werden zu künstlichen Riffen.

Ruhig gleitet die Taucherin über die riesigen Stahlskelette hinweg. Ihre Flossen bewegen sich kaum, nur ab und zu sieht man Luftblasen aufsteigen. Ihr Blick schweift von den großen Fächergorgonien zu den Reihen von Röhrenschwämmen, die das künstliche Riff, das aus der Bohrinsel entstanden ist, schon vor 20 Jahren besiedelt hatten. Inzwischen wachsen hier überall bunte Schwämme und Korallen – ein wahres Paradies für die Fische im Golf von Mexiko.

Dann hat die Taucherin erspäht, was sie suchte. Eine leichte Bewegung aus dem Handgelenk, ein Schuss – und der imposante Barsch zappelt am Harpunenpfeil. Zehn Minuten später zieht sich Vanessa aus dem Wasser. Sie greift nach der Leiter, reicht ihrem Mann Alfredo erst die Harpune, dann den gefangenen Fisch. Sie wringt ihre langen Haare aus und schaut auf ihre wasserdichte Smartwatch: „Prognose Ölpreis – fallend.“ Vanessa haucht ihrem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Schatz, da hast du wieder ein Prachtexemplar erwischt“, schmeichelt Alfredo. Er reicht seiner Frau ein Handtuch. Während sie sich abtrocknet, sagt sie: „Legst Du bitte den Fisch schon auf den Grill? Ich muss in den Holoraum.“ Ihr Mann zieht eine Augenbraue nach oben: „Schon wieder? Du bist ja süchtiger als die Kinder.“ Vanessa lächelt nur milde: „Alfredo….“ Dann eine lange Pause. „Du wolltest doch auf dem Boot leben. Ich muss eben zwischendurch arbeiten. Oder sollen wir zurück nach Houston ziehen?“ Alfredo bleibt stumm, dreht sich um und legt wortlos den Fisch auf den Tisch neben den heißen Holzkohlengrill.

Vanessa scheucht ihre Kinder aus dem Hologrammraum und konzentriert sich. Ihre Smartwatch hatte schon vor dem Tauchgang ein Absacken des Ölpreises für die kommenden Wochen vorhergesagt, und dieser Trend hat sich in der letzten halben Stunde verstärkt. Sie muss sich jetzt dringend einen Überblick verschaffen, was da los ist.

„Hallo Vanessa. Du siehst wie immer super aus. Sicher möchtest du dir die Preis-Prognosen genauer anschauen“, sagt ihr virtueller Assistent, Geoff, zur Begrüßung. Die zwei sind ein eingespieltes Team. Geoff weiß fast immer, was Vanessa als Nächstes tun möchte. Während er die Präsentation vorbereitet, sieht sie aus dem Unterwasserfenster, ihr Blick schweift aufs künstliche Riff. Noch vor zehn Jahren wurden hier Öl und Gas gefördert.

Versenkte Plattformern, künstliche Riffe

Doch Umweltschützer hatten darauf bestanden, die altmodische und kostspielige Förderung mithilfe von Plattformen aufzugeben. Mehrere Tausend solcher Plattformen mit ihren Stahlskeletten – wie die, wo sie sich hier befanden – waren seither umweltschonend versenkt und zu künstlichen Riffen umgewandelt worden. Die Technologien für Subsea-Oil, die Ölförderung mit automatisierten Förderanlagen am Meeresgrund, hatten in den vergangenen zwanzig Jahren erhebliche Fortschritte gemacht; die Kosten sanken drastisch. Die Ausrüstung wird dabei von Spezialrobotern am Meeresgrund installiert, und die Förderfabrik arbeitet danach jahrzehntelang autark. Das geförderte Öl fließt durch induktionsgeheizte Rohrleitungen an Land und wird dort fast vollautomatisch raffiniert. Nur für die anfängliche Installation und das Bohrloch werden noch bemannte Spezialschiffe benötigt, die den Bohrkern Tausende Meter tief in den Meeresboden treiben.

Vanessa setzt ihre Brille auf und blafft Geoff an: „Wieso geht der Preis so schnell runter?“ Ihr virtueller Assistent erklärt ruhig: „Wir rechnen damit, dass viel Kapazität auf den Markt kommt. Einige Schiefergasfelder in Argentinien wurden schneller entwickelt, als gedacht. Irgendjemand bestellt zudem eine Menge neuer Ausrüstung an den automatisierten Auktionsmärkten. Es dürften also in den nächsten drei Monaten weitere Felder entwickelt werden. Und… da ist noch etwas, was dir nicht gefallen wird.“ Vanessa seufzt.

Ihr Leben hat sich verändert, seit die Produktion weitgehend automatisiert wurde. Jobs auf Offshore-Stationen gibt es kaum mehr. Produktionsingenieure, wie Vanessa, können inzwischen dank schneller Datenverbindungen den Status von Ölfeldern überall auf der Welt abfragen und steuernd eingreifen. Vanessa konnte so mit ihrer Familie auf das Hochsee-Hausboot ziehen, Alfredo hatte sich das immer gewünscht. „Ich bin der letzte Offshore-Arbeiter in der Öl- und Gasindustrie“, scherzt sie manchmal. Ein Zuckerschlecken ist das alles trotzdem nicht: „Die einzigen Arbeiten, die mir bleiben, sind die wirklich schwierigen, die wo man sich enorm konzentrieren und kreative Lösungen entwickeln muss“, meint sie dann.

Am Anfang ihrer Laufbahn musste sie noch entscheiden, ob ein einzelnes Ventil hier oder da geöffnet oder geschlossen werden soll – und musste das teils selbst und von Hand machen. Heute sprechen alle Bauteile im Ölfeld automatisch miteinander und entscheiden ohne ihr Zutun, was sie jeweils tun müssen, um im Zusammenspiel die optimale Produktionsmenge zu erreichen. Diese wiederum wird von Algorithmen bestimmt, die unter anderem komplexe Prognosen für Angebot und Nachfrage heranziehen.

Für Vanessa bleiben tatsächlich nur die harten Nüsse übrig: Krisen, unvorhergesehene Ausfälle, die Entscheidung, ob ganze Felder am Netz bleiben oder nicht. So eine Entscheidung kann ihrem Arbeitgeber Milliarden einbringen – oder kosten.

„Vanessa, hallo“, ruft Geoff. „Aufwachen, Süße. Die Produktion in einem unterseeischen Ölfeld westlich von Grönland geht seit einer Stunde zurück. Eines der älteren Ölfelder, dessen Druck schon vor einiger Zeit nachgelassen hat. Seit ein paar Monaten wird CO2 hineingepumpt, um die Reste herauszupressen. Doch offenbar ist jetzt einer der Kompressoren ausgefallen.“ Ein 3D-Bild des Reservoirs wird in Vanessas Brille eingespielt. „Schau mal“, sagt Geoff und dreht die Animation. „Dieser Kompressor müsste es sein.“ Eine Anlage blinkt auf. „Er hat sich selbst abgeschaltet, zur Sicherheit. Wahrscheinlich ist er irgendwo nicht mehr dicht.“

Das wäre nicht das erste Mal. Vor 20 Jahren, als der Kostendruck in der Ölindustrie immer schärfer wurde, wollte Vanessas Arbeitgeber sparen, wo es nur ging – und kaufte Kompressoren von einem neuen Anbieter für unterseeische Ölfelder. Die Kompressoren waren rund 40 Prozent günstiger, als die Ausstattung von namhaften Herstellern. Doch jetzt rächt sich die Sparsamkeit von damals. Ein Bauteil nach dem anderen geht kaputt – teils 3.000 Meter unterhalb des Meeresspiegels.

„Wir können das Feld bis auf weiteres vom Netz nehmen oder sofort einen 3D-Drucker auf Grönland anwerfen und ein Ersatzteil produzieren“, schlägt Geoff vor. Er fügt neckisch hinzu: „Ich seh’s Dir an – Du weißt nicht, was Du tun sollst. Aber diese Entscheidung kann ich Dir nicht abnehmen.“ Vanessa ist sich unsicher: Der Ölpreis sinkt gerade, da kann es sogar sinnvoll sein, weniger zu produzieren. Andererseits ist das Feld lange abgeschrieben und produziert günstig. „Reparieren!“, sagt sie schließlich.

Geoff hatte mit einer Wahrscheinlichkeit von 83 Prozent darauf getippt, dass sich Vanessa so entscheiden würde. Es kostet zwar eine Menge, das Teil drucken zu lassen, die Drohne zu starten, die es zum mobilen Reparaturschiff bringt, das dann ein Wartungs-U-Boot losschickt, um das Ersatzteil in der Tiefsee auszutauschen. Aber … „Du hast vollkommen recht. Meine Rentabilitätsberechnungen würden das auch empfehlen.“

Der Geruch von Verbranntem steigt in Vanessas Nase. Mist! „Ciao, Geoff“ murmelt sie, haucht einen Kuss ins Hologramm, nimmt ihre Brille ab und öffnet die Tür. Alfredo steht davor. „Tut mir leid, Schatz“, entschuldigt er sich. „Der Fisch ist verbrannt.“

„Das macht gar nichts“, sagt Vanessa ruhig. „Ich hole uns einen neuen.“ Sie beginnt, ihre Taucherausrüstung wieder anzulegen, und wirft einen Blick auf ihre Smartwatch. Geoff ist darauf zu sehen; er zwinkert Vanessa zu und lächelt. Ein Assistent zum Verlieben. Sie stürzt sich rücklings ins Wasser.

Platsch! Es wird mindestens eine Viertelstunde dauern, bis sie zum Riff tauchen und einen neuen Fisch holen kann, rechnet Alfredo aus. Ihm war Vanessas Blick auf Geoff nicht entgangen – er hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Nur er, sie und die Kinder auf dem Hausboot, das hätte so schön werden können. Doch jetzt … Er schaut auf den Starterknopf. Er könnte jetzt einfach den hybridelektrischen Motor anwerfen. 100 Seemeilen würde er bis Sonnenuntergang schaffen. Tiefkühlpizza für die Kinder wäre ja auch noch da… „Ich könnte sie hierlassen“, flüstert er vor sich hin. Doch beim Blick auf das Navigationssystem sieht er Geoff: „Keine Chance“, sagt der Avatar mit einem geradezu teuflischen Grinsen.

Andreas Kleinschmidt

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