Sicherungskopie im Zentralhirn: Wie Fruchtfliegen ein Ortsgedächtnis bilden

Wenige Ringneurone (grün) im Zentralhirn der Fliege (magenta) enthalten das visuelle Orientierungsgedächtnis Foto/©: AG Strauss, JGU

Insekten besitzen ein Gedächtnis zur Orientierung im Raum, das ihnen bei einer kurzen Ablenkung hilft, sich an den ursprünglichen Weg zu erinnern. Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster untersucht, wie dieses Arbeitsgedächtnis auf biochemischer Ebene funktioniert.

Sie haben dabei zwei gasförmige Botenstoffe gefunden, die für die Signalvermittlung in den Nervenzellen eine wichtige Rolle spielen: Stickoxid und Schwefelwasserstoff. Das kurzzeitige Arbeitsgedächtnis wird über die Botenstoffe in wenigen ringförmigen Neuronen des Ellipsoidkörpers im Zentralhirn von Drosophila gebildet.

Fliegen bilden ein Gedächtnis für Orte, die sie gerade ansteuern wollen. Diese Erinnerung hält für ungefähr vier Sekunden an. Wird eine Fliege beispielsweise auf ihrem Weg für eine Sekunde abgelenkt, kann sie anschließend die zuvor eingeschlagene Richtung wieder aufnehmen.

„Dieses Erinnerungsvermögen ist für uns die Eintrittskarte, um die Biochemie eines Arbeitsgedächtnisses zu untersuchen“, sagt Prof. Dr. Roland Strauss vom Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie der JGU zu dem Forschungsziel. Insbesondere interessiert sich der Wissenschaftler dafür, wie ein Netzwerk im Insektengehirn ein solches Ortsgedächtnis bilden kann und wie genau die biochemischen Abläufe funktionieren.

Bei den Untersuchungen im Rahmen ihrer Doktorarbeit fand Dr. Sara Kuntz überraschenderweise zwei gasförmige Neurotransmitter, die bei der Informationsübertragung mitwirken. Diese gasförmigen Botenstoffe gehen nicht den ansonsten üblichen Weg der Signalvermittlung via synaptischen Spalt, sondern können ohne an Rezeptoren anzudocken direkt durch die Membran der benachbarten Nervenzelle diffundieren. Von Stickoxid (NO) ist bereits bekannt, dass es zur Rückkopplung von Informationen zwischen zwei Nervenzellen für die Gedächtnisbildung benötigt wird. Neu ist, dass NO hier auch als sekundärer Botenstoff an der Verstärkung der Ausgangssignale von Nervenzellen beteiligt ist.

Diese Funktion von Stickoxid kann offenbar ebenso von Schwefelwasserstoff (H2S) übernommen werden. Von dem Gas wusste man bislang nur, dass es bei der Steuerung des Blutdrucks eine Rolle spielt, nicht jedoch im Nervensystem. „Eigentlich dachte man, Schwefelwasserstoff sei im Nervensystem schädlich. Aber in unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass es als sekundärer Botenstoff von Bedeutung ist“, so Strauss. „Wir waren verblüfft, gleich zwei gasförmige Neurotransmitter für das Gedächtnis zu finden.“

Biochemischer Signalweg für das visuelle Arbeitsgedächtnis

Strauss und seine Mitarbeiter nehmen an, dass die beiden Neurotransmitter zusammen mit zyklischem Guanosinmonophosphat (cGMP) die ideale Speicherform für kurzzeitige Erinnerungen bilden. Der Ablauf funktioniert dann folgendermaßen: Die Fruchtfliege sieht einen Orientierungspunkt und bewegt sich in diese Richtung, worauf Stickoxid gebildet wird. Das Stickoxid aktiviert ein Enzym, das wiederum cGMP herstellt.

Entweder Stickoxid selbst oder cGMP reichern sich jetzt in einem Segment des Donut-förmigen Ellipsoidkörpers an, das dem eingeschlagenen Weg entspricht. Der Ellipsoidkörper befindet sich im Zentralkomplex des Insektenhirns und ist in 16 Segmente aufgeteilt, in etwa vergleichbar mit Kuchenstücken, die für 16 Raumrichtungen stehen.

Nun wird die Fliege auf ihrem Weg kurz abgelenkt, indem der erste Orientierungspunkt verschwindet und ein zweiter – beispielsweise im rechten Winkel dazu – für eine Sekunde auftaucht. Drosophila kann dann die ursprüngliche Orientierung wiederfinden, weil sich in dem entsprechenden Segment NO oder cGMP in vergleichsweise großer Menge angereichert hatte.

Das alles funktioniert jedoch nur unter einer Bedingung: Die Erinnerung wird nur abgerufen, wenn die Fliege zwischenzeitlich nichts mehr sieht, also wenn auch der zweite Orientierungspunkt verschwindet. „In dem Moment, wenn nichts mehr zu sehen ist, wird das Gedächtnis genutzt, das bis zu vier Sekunden problemlos überbrückt“, erklärt Sara Kuntz, Erstautorin der Studie, mit einem Hinweis darauf, dass diese kurze Zeitspanne von vier Sekunden dem Problem absolut angemessen ist. „Der Ellipsoidkörper hält dann die Sicherungskopie bereit, um die kurze Unterbrechung zu überbrücken.“ Da sich Objekte auch weiterbewegen können, ist ein längeres Arbeitsgedächtnis nicht sinnvoll.

Fotos:
http://www.uni-mainz.de/bilder_presse/10_drosophila_gedaechtnis_ort_01.jpg
Wenige Ringneurone (grün) im Zentralhirn der Fliege (magenta) enthalten das visuelle Orientierungsgedächtnis
Foto/©: AG Strauss, JGU

http://www.uni-mainz.de/bilder_presse/10_drosophila_gedaechtnis_ort_02.jpg
Wenige Ringneurone (grün) im Ellipsoidkörper der Fliege (magenta in der Bildmitte) enthalten das visuelle Orientierungsgedächtnis. Der Balken (rechts unten) entspricht 25 Mikrometer (µm).
Foto/©: AG Strauss, JGU

Veröffentlichung:
Sara Kuntz, Burkhard Poeck, Roland Strauss
Visual Working Memory Requires Permissive and Instructive NO/cGMP Signaling at Presynapses in the Drosophila Central Brain
Current Biology, 16. Februar 2017
DOI: 10.1016/j.cub2016.12.056

Weitere Informationen:
Prof. Dr. Roland Strauss
Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
55099 Mainz
Tel. +49 6131 39-25034
Fax +49 6131 39-25443
E-Mail: rstrauss@uni-mainz.de
http://www.bio.uni-mainz.de/zoo/abt3/307.php

http://www.bio.uni-mainz.de/zoo/abt3/269.php ;
http://www.cell.com/current-biology/abstract/S0960-9822(16)31538-X – Artikel in Current Biology ;
https://www.uni-mainz.de/presse/22493.php – Pressemitteilung „Auch Taufliegen haben ein Orientierungsgedächtnis“, 3. Juni 2008

Media Contact

Petra Giegerich idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

KI-basierte Software in der Mammographie

Eine neue Software unterstützt Medizinerinnen und Mediziner, Brustkrebs im frühen Stadium zu entdecken. // Die KI-basierte Mammographie steht allen Patientinnen zur Verfügung und erhöht ihre Überlebenschance. Am Universitätsklinikum Carl Gustav…

Mit integriertem Licht zu den Computern der Zukunft

Während Computerchips Jahr für Jahr kleiner und schneller werden, bleibt bisher eine Herausforderung ungelöst: Das Zusammenbringen von Elektronik und Photonik auf einem einzigen Chip. Zwar gibt es Bauteile wie MikroLEDs…

Antibiotika: Gleicher Angriffspunkt – unterschiedliche Wirkung

Neue antimikrobielle Strategien sind dringend erforderlich, um Krankheitserreger einzudämmen. Das gilt insbesondere für Gram-negative Bakterien, die durch eine dicke zweite Membran vor dem Angriff von Antibiotika geschützt sind. Mikrobiologinnen und…

Partner & Förderer