Vor dem Schmerz ist nicht gleich nach dem Schmerz

Warum stürzen sich Menschen an langen Seilen von Brücken und hohen Gebäuden herab? Warum lassen sie sich in Achterbahnen vorwärts und rückwärts durch Fünffach-Loopings jagen, obwohl den meisten bereits beim Anblick schon ganz schön flau im Magen wird?

Antworten auf diese Fragen könnte eine neue Untersuchung der Universität Würzburg geben. Geplant und durchgeführt wurde sie von Psychologen und Biologen der Uni unter der Leitung von Paul Pauli, Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie I, und dem Neurobiologen PD Dr. Bertram Gerber, Lehrstuhl für Neurobiologie und Genetik. Die renommierte britische Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B hat über diese Arbeit berichtet.

Fruchtfliegen reagieren vergleichsweise einfach

„Bei Fruchtfliegen ist die Angelegenheit relativ einfach“, sagt Bertram Gerber. Der Wissenschaftler erforscht schon seit Längerem am Biozentrum das Nervensystem von Fruchtfliegen und deren Larven. Duftstoffe spielen dabei eine wichtige Rolle. „Präsentiert man Fruchtfliegen einen bestimmten Geruch und setzt sie kurz danach einem schmerzhaften Stromreiz aus, gehen sie diesem Geruch in Zukunft aus dem Weg“, sagt Gerber. Eine Duftnote, die den Tieren im Anschluss an ein schmerzhaftes Ereignis dargeboten wird, zieht sie hingegen in Zukunft an. „Bei Fruchtfliegen kommt es also auf den Zeitpunkt an, um Bestrafung in Belohnung umzuwandeln: Das Moment der 'Erleichterung' wirkt wie eine Belohnung“, sagt der Neurobiologe.

Menschliches Verhalten ist komplexer

Beim Menschen ist die Angelegenheit nicht ganz so einfach: „Wir wussten bisher vom Menschen, dass ein Reiz, der einem unangenehmen Ereignis regelmäßig vorangeht, nach kurzer Zeit als die Ankündigung einer Gefahr wahrgenommen wird“, erklärt Paul Pauli. Unbekannt war hingegen, ob Reize, die dem Schreck folgen, ähnlich wie bei der Fliege ebenfalls mit einem Gefühl der Sicherheit assoziiert werden. Schließlich ist menschliches Verhalten nicht ganz so einfach gestrickt wie das einer Fliege. So arbeiten beim Menschen mindestens zwei Systeme mal zusammen, mal gegeneinander: ein impulsives, von Gefühlen und Assoziationen geleitetes, und ein vom Verstand kontrolliertes, das auf der Basis von Wissen und Werten entscheidet.

Der Versuchsaufbau

Wie diese Systeme im Fall von unangenehmen Erlebnissen agieren, haben Pauli und seine Mitarbeiter jetzt an 101 Versuchspersonen im Alter zwischen 18 und 43 Jahren untersucht.

„Wir haben drei Gruppen gebildet und ihnen unterschiedliche geometrische Muster präsentiert“, schildert Pauli das Szenario. Dabei erhielt die eine Gruppe regelmäßig vor dem Aufleuchten einer bestimmten Figur einen leicht schmerzhaften Stromreiz am Unterarm, die andere Gruppe kurz nach dem Aufleuchten der Figur und die dritte – als Kontrollgruppe – erlebte beide Ereignisse mit langem zeitlichem Abstand.

Für die anschließende Testphase griffen die Psychologen zu einem Trick, den einer der Gutachter der Zeitschrift als „genial“ beschrieb: Stromreize gab es diesmal keine, dafür aber parallel zu den geometrischen Figuren ein unangenehm lautes Geräusch, das ganz automatisch eine Schreckreaktion nach sich zog. Wie stark diese Reaktion ausfiel, ließ sich anhand des Lidschlags messen. Zusätzlich mussten die Versuchsteilnehmer Auskunft darüber geben, wie sie die Dreiecke, Kreise und Quadrate erleben: Von „sehr unangenehm“ bis „sehr angenehm“ beziehungsweise von „ruhig“ bis „aufregend“.

Das Versuchsergebnis

Das Ergebnis war eindeutig: „Unabhängig davon, ob die Figur kurz vor oder nach dem Stromreiz auftrat, erhielt sie von den Versuchspersonen nach dem Training negative Werte“, sagt Pauli. Der Zeitpunkt scheint bei Menschen – anders als bei Fliegen – auf den ersten Blick also keine Rolle zu spielen – zumindest wenn es um ihr gesprochenes, explizites Urteil geht.

Der zweite Blick zeigt jedoch: Unterbewusst laufen andere Prozesse ab: „Bei Menschen, denen die Figur vor dem Stromreiz präsentiert wurde, verstärkte sich die Schreckreaktion auf den Lärm im Angesicht der Figur. Folgte die Figur dem Schmerz, schwächte sich die Reaktion aber ab“, sagt Pauli. Das Ergebnis lässt nach Ansicht der Psychologen den Schluss zu: Reize, die mit dem Ende eines unangenehmen Ereignisses verknüpft werden, werden später unterbewusst – Psychologen sprechen von „implizit“ – als angenehm empfunden.

Mögliche Erklärung für paradoxes Verhalten

Es scheint also so, als würden Menschen zwei unterschiedliche Bewertungssysteme besitzen, und zwar ein explizites, dessen sie sich bewusst sind, und ein implizites, das unbewusst ihr Verhalten steuert. Interessant an der vorliegenden Studie ist, dass sich diese beiden Systeme nicht immer einig sein müssen. Gut möglich, dass Störungen dieses Spiels zweier Systeme bei Angst- und Suchterkrankungen eine Rolle spielen oder erklären könnten, warum Angstpatienten oder Abhängige Dinge tun, von denen sie sagen, dass sie sie nicht mögen.

Aber die Vermutung, dass man so paradoxes Verhalten wie Achterbahn-Fahren oder Bungee-Jumping erklären könnte, ist bislang „Spekulation“.

“A rift between implicit and explicit conditioned valence in human pain relief learning”, Marta Andreatta, Andreas Mühlberger, Ayse Yarali, Bertram Gerber and Paul Pauli. Proceedings of the Royal Society B, doi:10.1098/rspb.2010.0103

Kontakt: Prof. Dr. Paul Pauli, T: (0931) 31-82842; E-Mail: pauli@psychologie.uni-wuerzburg.de

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Gunnar Bartsch idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-wuerzburg.de

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