Schlummerndes Potential verletzter Nervenzellen

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie konnten mit einem internationalen Forscherteam nun zwei wichtige Details klären: Nervenzellen des Rückenmarks besitzen auch viele Wochen nach einer Verletzung noch die Fähigkeit zu wachsen.

Die Regeneration wird jedoch durch Narbengewebe verhindert, das nach der Verletzung entsteht. Mit diesem Wissen können Wissenschaftler nun nach Möglichkeiten suchen, um das Narbengewebe zu reduzieren und die entsprechenden Wachstumsmechanismen zu aktivieren. (Current Biology, Juni 2009)

Ein kleiner Schnitt in den Finger ist schmerzhaft, doch nicht weiter tragisch. Die Wunde ist innerhalb weniger Tage verheilt und der Körper hat verletzte Hautzellen, Muskelfasern, Gefäße und durchtrennte Nervenzellen wieder repariert. Warum versagen diese erstaunlichen Selbstheilungskräfte des Körpers jedoch, wenn das Zentrale Nervensystem (ZNS) verletzt wird – das Gehirn oder das Rückenmark?

Wachstum oder Stillstand
Wie gut eine verletzte Nervenzelle heilt hängt von ihrer Lage im Körper ab: Während sich Nervenzellen des ZNS von einer Verletzung kaum wieder erholen, wachsen Nerven außerhalb des ZNS, also im Peripheren Nervensystem (PNS), meist nach kurzer Zeit wieder nach. Wissenschaftler versuchen schon seit Jahren, diesen Unterschied zu erklären. Dieses Wissen könnte die Grundlage schaffen, um neue Behandlungsmethoden für Rückenmarksverletzungen zu entwickeln. Mittlerweile ist klar, dass es im Zentralen Nervensystem eine ganze Reihe von Substanzen gibt, die ein erneutes Auswachsen der Nervenzellen verhindern. Diese Substanzen fehlen im Peripheren Nervensystem, sodass einer Regeneration hier nichts im Wege steht.

Es gibt jedoch Ausnahmen. Die Fortsätze bestimmter Nervenzellen reichen sowohl ins ZNS als auch ins PNS. Werden diese Zellen verletzt, verhalten sie sich genau wie ihre Nachbarzellen: Im peripheren Bereich wachsen die Fortsätze nach kurzer Zeit wieder aus, im zentralen Bereich dagegen nicht. Wird dieselbe Zelle jedoch zuerst im peripheren und dann im zentralen Bereich verletzt, dann kann sie auch im ZNS wieder auswachsen – trotz der wachstumsfeindlichen Umgebung. Das zeigt, dass sich Nervenzellen im Prinzip auch im Zentralen Nervensystem von einer Verletzung erholen können. Werden die Fortsätze der Nervenzelle jedoch in der umgekehrten Reihenfolge verletzt, so findet kein Wachstum im ZNS statt. Diese interessante Tatsache blieb jedoch ohne Bedeutung für die Behandlung von Patienten – periphere Nervenzellen als vorbeugende Maßnahme zu verletzen, scheidet aus.

Schlummernde Wachstumsfähigkeiten
In den letzten 20 Jahren gingen Wissenschaftler also davon aus, dass ein erneutes Wachstum der Nervenzellen nach einer ZNS-Verletzung nur dann möglich ist, wenn die Zellen vorher durch eine periphere Verletzung 'stimuliert' wurden. Ob diese Wachstumsbremse jedoch von den Zellen selbst oder durch eine Substanz aus ihrer Umwelt ausgeht, blieb unklar. Bekannt ist, dass eine Verletzung der Zelle im peripheren Bereich Gene aktiviert, die mit dem Zellwachstum in Verbindung stehen. Diese Gene werden bei einem Schnitt im zentralen Bereich nicht aktiviert. „Nach einer peripheren Verletzung steht die Zelle sozusagen in 'Startposition' und kann gleich anfangen zu wachsen, wenn eine Verletzung im Zentralen Nervensystem auftritt“, erklärt Frank Bradke, der mit seiner Nachwuchsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried die Gründe der unterschiedlichen Wachstumsfähigkeiten untersucht. Zusammen mit einem internationalen Team konnten die Max-Planck Forscher nun erstmals zeigen, dass Nervenzellen des ZNS auch viele Wochen nach einer Verletzung noch die Fähigkeit besitzen wieder auszuwachsen. In einem einfachen aber effektiven Versuch nahmen die Wissenschaftler eine Nervenzelle, die bereits eine Verletzung im Bereich des ZNS aufwies. Diese Zelle schnitten sie dann auch im peripheren Bereich und aktivierten so die Wachstumsgene. Wurde die Zelle dann im ZNS erneut geschädigt, so wuchs die Zelle auch hier wieder aus – egal, wie viele Wochen zwischen der ersten und der zweiten ZNS-Verletzung lagen.
Narbengewebe als Barriere
Wenn also Nervenzellen auch längere Zeit nach einer Rückenmarksverletzung noch wachsen können, warum tun sie es dann nicht, wenn sie durch einen peripheren Schnitt stimuliert werden? Liegt es vielleicht an dem Narbengewebe, das sich fünf Tage nach einer Verletzung im Rückenmark bildet? Um dies zu überprüfen, zeigten die Wissenschaftler ganz besonderes Fingerspitzengefühl: Normalerweise werden selbst bei sehr kleinen Verletzungen hunderte Nervenzellen durchtrennt. Mithilfe eines Zwei-Photonen-Lasers gelang es den Neurobiologen jedoch, den Fortsatz einer einzelnen Nervenzelle zu durchschneiden. An dieser winzigen Verletzung bildete sich kein Narbengewebe und die Nervenzelle wuchs nach einigen Tagen tatsächlich wieder aus.
Wichtige Grundlage
„Auch wenn wir von hier aus natürlich nicht gleich zur Entwicklung neuer Therapien übergehen können, so liefern diese Ergebnisse eine wichtige Grundlage für nachfolgende Studien“, sagt Bradke. „Zum einen ist nun klar, dass verletzte Nervenzellen auch nach langer Zeit noch auswachsen können, wenn sie richtig stimuliert werden. Zum anderen wissen wir nun, dass eine Aktivierung der Wachstumsgene allein nicht ausreicht, um Nervenzellen des Zentralen Nervensystems wieder wachsen zu lassen. Für eine erfolgreiche Regeneration muss auch die Ausbildung des Narbengewebes verhindert oder zumindest reduziert werden.“ Mit diesem Wissen können nun Methoden entwickelt werden, die die positiven Geneffekte verstärken und das Narbengewebe verringern.
Originalveröffentlichung:
Ylera B, Ertürk A, Hellaf F, Nadrigny F, Hurtado A, Tahirovic S, Oudega M, Kirchhoff F, Bradke F (2009): Chronically CNS-injured adult sensory neurons gain regenerative competence upon a lesion of their peripheral axon. Current Biology 19: 930-936
Kontakt:
Dr. Stefanie Merker
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Am Klopferspitz 18
82152 Martinsried
Tel.: 089 8578 3514
Email: merker@neuro.mpg.de

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Dr. Stefanie Merker Max-Planck-Institut

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