Neues neurologisches Krankheitsbild bei Kindern entdeckt

Links das Gehirn einer gesunden Maus, rechts das unterentwickelte Gehirn (Mikrozephalus) einer Maus mit einer Mutation im Gen CLP1. IMBA

Im letzten Jahr entdeckten IMBA Wissenschaftler aus den Gruppen um Josef Penninger und Javier Martinez einen Mechanismus in der Maus, der Nervenzellen absterben lässt. Der Mechanismus beruht auf einem Gendefekt des Gens CLP1 und ist die Basis einer Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen Muskelschwäche und Lähmungen auftreten, die oft zum Tod führen (Nature, 2013).

Genetische Mutation in Kindern – neues Krankheitsbild

Diese Ergebnisse betrafen die Maus, jetzt fanden Forscher eine Mutation im selben Gen in elf Kindern aus fünf Familien. Die Kinder litten an neurologischen Störungen, die von den Ärzten nicht zugeordnet werden konnten. Wissenschaftler des Baylor College of Medicine in Texas unter der Leitung von James Lupski sequenzierten die Genome der Kinder und stellten fest: Ursache der Nervenstörungen war eine Mutation im Gen CLP1. Wie die Mäuse mit diesem Gendefekt kamen auch die Kinder scheinbar „normal“ auf die Welt. Doch schon bald stellte man sensorische Defekte und eine Störung der Muskelfunktion fest.

Zusätzlich erkannte man bei den Kindern ein weiteres Symptom: einen sogenannten Mikrozephalus. Das ist eine Fehlentwicklung des Gehirns, die in diesem Fall vermutlich durch ein Absterben der Nervenzellen im Gehirn verursacht wird. Das Gehirn bleibt somit unterdurchschnittlich klein und die Kinder sind geistig behindert.

Noch nie zuvor wurde das Gen CLP1 mit einer menschlichen Erkrankung in Zusammenhang gebracht. Die Entdeckung dieses neuen Syndroms, das sowohl das Gehirn, als auch das periphere Nervensystem beeinträchtigt, brachte den IMBA Forschern und ihren Kollegen die Titelgeschichte im hochrangigen wissenschaftlichen Journal „Cell“.

CLP1, eine Erfolgsgeschichte am IMBA

IMBA Gruppenleiter Javier Martinez war der erste, der CLP1 überhaupt entdeckte (Nature, 2007). Im letzten Jahr publizierte sein Team gemeinsam mit Kollegen aus dem Labor von Josef Penninger, dass CLP1 Mutationen in der Maus zum Absterben von Nervenzellen und Muskelstörungen führen. Welche Rolle hingegen eine CLP1 Mutation im Menschen spielt, war bis zu der nun vorliegenden Studie unbekannt. „Wie wir nun beweisen, läuft der Mechanismus in Maus und Mensch offenbar ähnlich ab. Kennt man einen Signalweg im Detail, kann man in einem nächsten Schritt vielleicht eingreifen um Fehler zu reparieren“, freut sich der Biochemiker Martinez. Sein Postdoktorand Stefan Weitzer, einer der Erstautoren der vorliegenden Studie, erklärt die Hintergründe: „Eine Mutation im Gen CLP1 führt zu Störungen bei der Herstellung einer funktionsfähigen tRNA, die aber zur Erzeugung von Proteinen gebraucht wird. Der Prozess, der hier nicht richtig funktioniert, heißt „tRNA splicing“ und betrifft das Auseinanderschneiden und wieder richtige Zusammenkleben von RNA Teilen.“

Ungewöhnlicher Rückschluss: vom Mensch für die Maus lernen

Das Auftreten eines Mikrozephalus war den Wissenschaftlern bei den Mäusen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgefallen. Hiroshi Shiraishi, einer der Autoren der Studie, war überrascht: „Bei neuerlichen Untersuchungen fanden wir tatsächlich auch in den Tieren die unterdurchschnittlich kleinen Gehirne.“ Normalerweise liefern Forschungsergebnisse an Modellorganismen wie der Maus wertvolle Beiträge für die Humanmedizin, hier war es umgekehrt. Das zeigt für Josef Penninger, Laborleiter und wissenschaftlicher Direktor am IMBA, „wie wichtig Beobachtungen am Menschen sind, weil man hier oft noch unbekannte Phänotypen (äußere Erscheinungsmerkmale) sehen kann. Mit diesen Erkenntnissen gehen wir dann wieder ins Labor zurück und erforschen die genetische Grundlage. Diese wiederum gibt uns tiefere Einblicke in basale Mechanismen der Nerven- und Gehirnentwicklung, was wertvoll sein kann, wenn es später einmal um die Behandlung der Krankheiten geht.“

Beweis für die Theorie der „Clan-Genetik“

Zwischen den fünf Familien der betroffenen Kinder gab es auf den ersten Blick keinen Zusammenhang. Spannend wurde es, als die Forscher feststellten, dass es sich aber bei allen fünf Kindern um genau denselben Gendefekt handelt. Es ist ausgeschlossen, dass zufällig haargenau dieselbe Mutation mehr als einmal entsteht. Somit müssen die Vorfahren dieser Kinder vor vielen Generationen verwandt gewesen sein, die Familien wussten aber nichts davon. Tatsächlich stammten bei weiteren Nachforschungen alle Vorfahren der Familien aus einem Clan in der Türkei. Die Entdeckung dieser Genmutation stützt somit auch die im Jahr 2011 von Forscher-Kollegen in Amerika entwickelte These der „Clan-Genetik“.

Originalpublikation
„Human CLP1 mutations alter tRNA biogenesis affecting both peripheral and central nervous system function”, Karaca et al., Cell.
Die wissenschaftliche Arbeit erfolgte in Kooperation mit Wissenschaftlern des Baylor College of Medicine, Houston, Texas, unter der Leitung von James R. Lupski.

IMBA
Das IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie ist ein international anerkanntes Forschungsinstitut mit rund 200 Mitarbeitern aus 25 Ländern. Die Wissenschaftler erforschen molekulare Prozesse in Zellen und Organismen und versuchen, Ursachen für die Entstehung humaner Erkrankungen aufzuklären. Zwölf wissenschaftliche Arbeitsgruppen arbeiten an biologischen Fragestellungen aus den Bereichen Zellteilung, RNA-Interferenz und Epigenetik, ebenso wie an unmittelbaren medizinischen Fragestellungen aus den Gebieten Onkologie, Stammzellforschung und Immunologie. Das IMBA ist eine 100% Tochtergesellschaft der ÖAW. www.imba.oeaw.ac.at

ÖAW
Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist die führende Trägerin außeruniversitärer akademischer Forschung in Österreich und verfügt über ein Jahresbudget von rund 75 Millionen Euro. Ihre Forschungseinrichtungen beschäftigen insgesamt etwa 1.300 Personen und betreiben anwendungsoffene Grundlagenforschung in gesellschaftlich relevanten Gebieten der Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften sowie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. www.oeaw.ac.at

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