Naschen mit Nebenwirkung

Junge Larve des Tabakschwärmers Manduca sexta, die Blatthärchen des wilden Tabaks (Nicotiana attenuata) verspeist. MPI chemische Ökologie: Ian Baldwin, Alexander Weinhold<br>

Blatthaare, so genannte Trichome, dienen Pflanzen zur Abwehr von Schädlingen: als Bewegungshindernis, Falle oder Reservoir für giftige Substanzen. Die Härchen des wilden Tabaks enthalten vorzugsweise Acylzucker, die aus herkömmlichem Rohrzucker bestehen und mit verzweigtkettigen aliphatischen Säuren verknüpft sind, Substanzen, die beispielsweise dem Erbrochenen von Säuglingen seinen süßlichen Geruch verleihen.

Diese Flüssigkeit wird von winzigen, frisch geschlüpften Raupen vertilgt. Jedoch gerät den Larven das Verspeisen der Blatthaare zum Nachteil: Die Raupen entwickeln einen markanten Körpergeruch, ebenso riecht auch der Raupenkot. Max-Planck-Wissenschaftler haben entdeckt, dass Ameisen den Geruch der aliphatischen Säuren erkennen und nutzen, um ihre Beute zu finden. Die räuberischen Ameisen spüren die jungen Larven auf der Pflanze auf und entführen sie in ihren Bau, um sie dort an ihre Jungen und ihre Nestgenossen zu verfüttern. Pflanzen setzen also Acylzucker nicht nur als klebrige Fallen gegen Blattläuse, Blattflöhe oder Spinnmilben ein. Sie können damit auch geschickt gefräßige Raupen mit einem Duft markieren, der sie zu einer leichten Beute für ihre Feinde macht. (PNAS Early Edition, 25.-29. April 2011, DOI: 10.1073/pnas.1101306108).

Sich durch ein auffälliges Merkmal zu verraten, kann für manche Tierart zum Verhängnis werden. Bunte Federn oder unvorsichtiges Verhalten bei der Balz gehören ebenso dazu wie unfreiwillige Geruchsnoten, die durch den Organismus selbst oder aus dessen Exkrementen in die Umgebung freigesetzt werden. Larven des Dickkopffalters Epargyreus clarus wenden viel Zeit dafür auf, den Kot aus ihrem Unterschlupf so gründlich zu entfernen, damit Räuber sie nicht mithilfe des verräterischen Dufts erkennen können. Manche Pflanzenarten wiederum machen sich die Vorliebe fleischfressender Raubinsekten für ihre „grünen“ Duftsignale zunutze, um sich indirekt vor Fraßfeinden zu schützen. Kürzlich konnte Ian Baldwin, Leiter der Abteilung Molekulare Ökologie am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, zusammen mit seinen Doktoranden auf der Freilandstation in Utah (USA) zeigen, dass Tabakschwärmer-Raupen eine Substanz in Tabakblätter befördern, die zu Ungunsten der Raupe einen Blattduftstoff in ein gefährliches Locksignal umwandelt. Mit der als (E)-2-Hexenal bezeichneten Substanz werden Raubwanzen angelockt, die die Tabakschwärmer-Raupe vertilgen (vgl. Pressemeldung „Tödliches Eigentor – grüner Duft wird Tabakschwärmer-Raupen zum Verhängnis“).

In der Annahme, dass Trichome mit Giften oder klebrigen Substanzen gefüllte Abwehrstrukturen sind, beobachteten die Wissenschaftler überrascht, dass frisch geschlüpfte Tabakschwärmer-Raupen (Manduca sexta) und auch Raupen zweier Arten der Gattung Spodoptera nicht sofort in die Blätter des wilden Tabaks (Nicotiana attenuata) beißen; sie machten sich stattdessen zielstrebig daran, die Blatthaare und deren Inhalt zu vertilgen (siehe Video auf http://www.ice.mpg.de/ext/735.html). Der Grund dafür ist vermutlich der in den Trichomen in großer Menge vorhandene und mit aliphatischen Säuren verknüpfte Rohrzucker. Durch diese kalorienreiche Mahlzeit gedeihen die Tiere prächtig, eine vergiftende Wirkung konnte nicht festgestellt werden. Alexander Weinhold, Doktorand in Ian Baldwins Arbeitsgruppe, stellte jedoch bei Untersuchungen an den Tieren und deren Kot fest, dass sich durch die Verdauung des Blatthaar-Saftes das Duftprofil deutlich verändert hatte: Aus den Tieren und deren Kot drangen vier flüchtige verzweigtkettige aliphatische Säuren in den Luftraum – aus dem Kot innerhalb von zwei Stunden die beträchtliche Menge von 0,03 Milligramm. Die chemische Analyse ergab, dass die Säuren im Darm der Tiere von den Acylzuckern stammten, die mit den Blatthaaren aufgenommen wurden.

„Wir waren uns eigentlich sicher, dass mit den duftenden Fettsäuren Räuber, wie beispielsweise die Wanze Geocoris, angelockt werden, die dann die pflanzenfressenden Raupen und von der Motte abgelegte Eier vertilgen“, sagt Baldwin. Zusammen mit Kontrollexperimenten, die die vollkommen unbehaarte Tabakart Nicotiana glauca mit einschlossen, zeigte sich allerdings kein signifikant vermehrtes Auftreten der Wanzen. Allerdings fiel auf, dass auf zusätzlich mit den aliphatischen Säuren parfümierten Blättern häufiger Beutezüge gegen junge Tabakschwärmer-Raupen stattfanden. Nur war nicht erkennbar, wer zugeschlagen hatte. Unter dringendem Tatverdacht standen die am Standort Utah in großer Artenzahl vorkommenden Ameisen.

Um zu prüfen, ob und welche der vielen Ameisenarten, die den natürlichen Standort von wildem Tabak bevölkern, auf die Säuren reagieren, legte Ian Baldwin gekochte Reiskörner aus. Diese waren zusätzlich mit je 0,03 Milligramm an Fettsäuren, also derjenigen Menge, die im Kot der Raupen gemessen wurde, markiert. Das Ergebnis: Ameisen aus fünf verschiedenen Nestern steuerten gezielt die Reiskörner an und trugen diese fort. Die Ameisen gehören zur Art Pogonomyrmex rugosus, die sich sowohl von Pflanzensamen als auch von Zikaden und Raupen ernährt. In nachfolgenden umfangreichen Experimenten, die einen Ausschluss visueller Merkmale der Tabakschwärmer-Raupen erlaubten – so wurde beispielsweise frischer beziehungsweise erhitzter und damit geruchsneutraler Raupenkot eingesetzt – , konnten die Wissenschaftler beweisen, dass die Ameisen gezielt auf den Duft der jungen Raupen nach aliphatischen Säuren reagierten, der diesen damit zum Verhängnis wurde.

Die Forscher gehen davon aus, dass der Trick des wilden Tabaks, verlockende Zuckermoleküle mitsamt verzweigtkettiger aliphatischer Säuren anzubieten, nützlich ist, um die für ihn gefährlichen Raupenbabys an ihre Feinde zu verraten. Ob diese molekulare Strategie im ökologischen Sinne als „indirekte Verteidigung“ mit dem Erfolg der Arterhaltung bezeichnet werden kann, müssen weitere, bereits geplante Experimente zeigen, die beispielsweise transgene Pflanzen einschließen, deren Syntheseschritt zur Bildung acylierter Zucker in den Blatthaaren unterbrochen ist. [JWK/ITB]

Originalveröffentlichung:
A. Weinhold, I. T. Baldwin: Trichome-derived O-acyl sugars are a first meal for caterpillars that tags them for predation. Proceedings of the National Academy of Sciences USA, Early Edition, 25.-29. April 2011, DOI: 10.1073/pnas.1101306108
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Ian T. Baldwin, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Straße 8,07745 Jena. Tel.: +49 (0)175 1804226 oder +1 435-703-4029 (USA). baldwin@ice.mpg.de
Bildanfragen: Downloads auf http://www.ice.mpg.de/ext/735.html oder bei
Angela Overmeyer, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Hans-Knöll-Straße 8, 07745 Jena. Tel.: +49 (0)3641- 57 2110; overmeyer@ice.mpg.de

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Dr. Jan-Wolfhard Kellmann Max-Planck-Institut

Weitere Informationen:

http://www.ice.mpg.de/ext/735.html

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