Was Mensch und Maus gemeinsam haben

Ist bei einem Erwachsenen, etwa durch eine Linsentrübung, das Sehvermögen eingeschränkt, kann sich die Sehfunktion, beispielsweise nach einer Katarakt-Operation, wieder stabilisieren und das Sehvermögen erneut einstellen. Anders bei einem Kind: hier kann eine getrübte Augenlinse zu permanenter Blindheit führen.

„Die kortikale Plastizität in der Sehrinde, wie sie bei Kindern vorhanden ist, bildet sich im Laufe der Jahre zurück“, erklärt Prof. Dr. Siegrid Löwel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kortikale Plastizität bezeichnet die Eigenschaft der Synapsen und Nervenzellen in der Großhirnrinde, sich abhängig von deren Verwendung in ihren Eigenschaften zu verändern. „Dringen aufgrund einer Linsentrübung bei Kindern keine Sehimpulse ins Gehirn, trennen sich die Fasern zwischen Auge und Gehirn endgültig, während sich bei einem Erwachsenen der Zustand wieder stabilisieren kann“, weiß die Jenaer Neurophysiologin.

Um die kortikale Plastizität oder Erkrankungen des Sehsystems zu erforschen, werden heutzutage oft Mäuse als Versuchstiere genutzt. In den letzten Jahren hatten Wissenschaftler mehrfach beschrieben, dass die kortikale Plastizität bei Mäusen – im Gegensatz zum Menschen – das ganze Leben über vorhanden ist. „Diese ungleiche Funktionsweise der Organismen stellte jedoch die Validität der Mäuse als Versuchsmodelle für die Erforschung von Erkrankungen des Sehsystems sehr in Frage“, gibt Prof. Siegrid Löwel zu bedenken. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Konrad Lehmann konnte sie die Annahme widerlegen und beweisen, dass die Nervenzellen der Mäuse nur bis zu ihrem 110. Lebenstag plastisch sind. Ein Ergebnis, das im wissenschaftlichen Online-Portal PLoSONE veröffentlicht wurde.

„Die bisherige, irrtümliche Annahme stützte sich auf wissenschaftliche Versuche, die mit höchstens drei Monate alten Mäusen unternommen wurden“, sagt Prof. Siegrid Löwel. Gemeinsam mit ihrem Team untersuchte sie Mäuse im Alter von vier Wochen sowie drei, vier und acht Monaten. Um die Linsentrübung zu imitieren, wurde den Tieren ein Auge verschlossen. „Mit Hilfe einer minimal-invasiven optischen Methode (optical imaging of intrinsic signals) haben wir die Aktivitäten im Gehirn sichtbar gemacht“, erklärt Prof. Siegrid Löwel die relativ neue Methode des optischen Ableitens. Dabei wird das Gehirn der Maus mit dunkelrotem Licht bestrahlt und durch eine Kamera beobachtet. Erhöhte neuronale Aktivität führt zu einer erhöhten Konzentration von Desoxyhämoglobin, das die rote Strahlung stärker absorbiert. Aktive Gehirnareale erscheinen somit dunkler als inaktive Bereiche. „Dank einer räumlichen Auflösung von 0,05 Millimeter, das ist eine etwa 20fach bessere Auflösung als ein Kernspintomograph liefert, sind die Vorgänge im Gehirn mit der Kamera sehr genau zu beobachten.“

Bei einem parallel mit den gleichen Mäusen durchgeführten Verhaltenstest wurde die Sehschärfe mit Hilfe eines optomotorischen Apparats gemessen. In einer Arena-ähnlichen Box wurden senkrechte Streifen auf die Innenwände projiziert und entweder nach rechts oder nach links bewegt. Da Mäuse den Streifen mit Kopfbewegungen folgen, war die beobachtbare Folgebewegung der Mäuse ein eindeutiges Indiz für deren Sehvermögen.

Die Ergebnisse bescheinigten, dass sich Mäuse in der neuronalen Plastizität ihrer Sehrinde nicht vom Menschen und auch nicht von herkömmlichen Versuchstieren der Hirnforschung wie Affen oder Katzen unterscheiden. „Der Befund ist eine essentielle Vorbedingung“, so Löwel, „um Mäuse als Modellorganismus bei der Erforschung von Erkrankungen des Sehsystems oder neurologischen Erkrankungen beim Menschen zu nutzen.“

Originalpublikation:
Lehmann K. und Löwel, S. (2008) Age-dependent ocular dominance plasticity in adult mice, PLoS ONE/3(9): e3120.
Kontakt:
Prof. Dr. Siegrid Löwel
Institut für Allgemeine Zoologie und Tierphysiologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erbertstraße 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 949131
E-Mail: siegrid.loewel[at]uni-jena.de

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Katrin Czerwinka idw

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