Wie das Leben an Land kam

Wenn Wissenschaftler darauf wetten sollten, welche heute noch lebende Fischart am nächsten mit dem Fisch verwandt ist, der vor ungefähr 400 Millionen Jahren als erster das Wasser verlassen und an Land gekrochen ist, gab es zwei heiße Kandidaten: den Quastenflosser und den Lungenfisch.

Jetzt ist die Entscheidung gefallen. Ein weltweites Netzwerk von Wissenschaftlern hat das Genom des Quastenflossers entschlüsselt; seitdem steht fest, dass der Lungenfisch mit den ersten Landlebewesen ein kleines Stück näher verwandt ist. Dennoch bleibt der Quastenflosser für die Wissenschaft bevorzugter Forschungsgegenstand.

Publikation in Nature

„Der Quastenflosser steht genau an der Schnittstelle der Evolution zwischen Fischen und Landwirbeltieren. Deshalb ist dieser Organismus aus evolutionärer Sicht von größtem Interesse“, sagt Professor Manfred Schartl, Inhaber des Lehrstuhls für Physiologische Chemie am Biozentrum der Universität Würzburg. Der Biochemiker und Genetiker hat daran mitgewirkt, das Genom des Quastenflossers zu entschlüsseln. In der aktuellen Ausgabe von Nature ist diese Arbeit Titelthema.

Über zwei Jahre hinweg haben Forscher weltweit das Quastenflosser-Genom sequenziert, die Gene identifiziert und mit dem Erbgut sowohl des Lungenfischs als auch verschiedener auf dem Land lebender Tiere verglichen. Dabei interessierten sie sich vor allem dafür, welche Gene verloren gingen oder hinzugewonnen wurden, als aus Fischen Landbewohner wurden, und welche regulatorischen Elemente – Abschnitte des Erbguts, die steuern, wo, wann und zu welchem Grad Gene aktiv sind – neu hinzugekommen sind. Ihre wichtigsten Entdeckungen sind:

Geruchssinn

Der Umzug vom Wasser ans Land hatte viele Veränderungen bei jenen Genen zur Folge, die das Geruchsempfinden steuern – speziell solcher Gene, die es ihren Trägern ermöglichen, durch die Luft übertragene Gerüche zu identifizieren. Eine logische Entwicklung, schließlich benötigten die ersten Landlebewesen neue Möglichkeiten, Stoffe in ihrer Umgebung zu erkennen.

Immunsystem

Beim Vergleich des Quastenflosser-Genoms mit dem von Landlebewesen stießen die Wissenschaftler auf eine große Zahl von Veränderungen in den regulatorischen Abschnitten und Genen, die das Immunsystem steuern. Ihre Vermutung: Diese könnten die Antwort auf neue Krankheitserreger sein, mit denen die ersten Landbewohner konfrontiert waren.
Evolutionäre Entwicklung

Das Forscher-Team stieß auf mehrere Schlüsselregionen im Genom, an denen die Evolution tätig wurde, um die für Landwirbeltiere typischen Veränderungen zu erzeugen, wie beispielsweise Glieder, Zehen und die Säugetiere-Plazenta. Eine dieser Regionen, bekannt unter dem Namen HoxD, enthält eine spezielle Sequenz, die sowohl bei Quastenflossern als auch bei Landwirbeltieren zu finden ist. Es ist höchstwahrscheinlich, dass sie von den Landlebewesen übernommen wurde, um Arme und Beine zu bilden.

Stickstoff-Kreislauf

Manfred Schartl hat sich in erster Linie für die Veränderungen des Stickstoff-Kreislaufs beim Übergang vom Wasser ans Land interessiert. „Im Wasser ist es kein Problem, Stickstoff als Stoffwechselendprodukt wieder loszuwerden“, sagt der Biochemiker. Fische könnten ihn in Form von Ammoniak über die Kiemen ins Wasser ausscheiden. Landlebewesen mussten hingegen eine andere Technik entwickeln: Sie wandeln Ammoniak in den weniger giftigen Harnstoff um und scheiden ihn über die Nieren aus.
Schartls Untersuchungen zeigen, dass das wichtigste Gen, das in diesen Harnstoff-Kreislauf eingebunden ist, bei Landwirbeltieren in einer modifizierten Form vorliegt. Wie er nachweisen konnte, hatte sich dieses Schlüssel-Gen bereits vor dem Landgang verändert. „Die Tiere waren also schon an die Bedingungen an Land adaptiert, bevor sie überhaupt dort gelebt haben“, sagt Schartl. Eine ähnliche Entwicklung wie es sie also beispielsweise bei der Lungenatmung oder der Umstellung von Flossen auf knochen- und muskelbewehrte Extremitäten gab.

Ein lebendes Fossil

Quastenflosser sind seit schätzungsweise 70 Millionen ausgestorben: Diese Meinung war lange Zeit Stand der Wissenschaft. Bis am 23. Dezember 1938 Fischer vor der südafrikanischen Küste in ihren Netzen einen stahlblauen, etwa 1,50 Meter langen und 52 Kilogramm schweren Fisch entdeckten: das erste Exemplar eines heute lebenden Quastenflossers. Es sollten weitere 14 Jahre vergehen, bis im Jahr 1952 in der Gegend zwischen den Komoreninseln und Madagaskar, 3000 Kilometer von der ersten Fundstelle entfernt, ein zweiter Quastenflosser gefangen wurde. Inzwischen sind etwas mehr als 300 Exemplare nachgewiesen.

Heutige Exemplare des Quastenflossers ähneln den versteinerten Abdrücken ihrer mehr als 300 Millionen Jahre alten Vorfahren stark. Ihr Genom bestätigt, was viele Wissenschaftler lange Zeit vermutet hatten: Die Gene des Quastenflossers verändern sich im Laufe der Evolution deutlich langsamer als die anderer Lebewesen. „Wir wissen, dass im Genom des Quastenflossers Mutationen sehr viel seltener auftreten als bei den meisten anderen Lebewesen“, sagt Manfred Schartl. Über die Gründe dafür lässt sich nach Schartls Worten nur spekulieren. „Das liegt vermutlich auch in den Genen und hängt möglicherweise mit dem sehr langsamen Stoffwechsel des Quastenflossers zusammen“, sagt er.

Wenige Mutationen über lange Zeiträume – aus evolutionärer Sicht ist das nicht unbedingt ein Vorteil. „Solche Tierarten tun sich schwer damit, sich an veränderte Lebensbedingungen anzupassen“, sagt Schartl. Für den Quastenflosser dürfte das kein Problem sein: Er hält sich bevorzugt mehrere hundert Meter unter dem Meeresspiegel in der Tiefsee auf – einer Umgebung mit sehr stabilen Bedingungen.
Die Bedeutung der Arbeit

Für die Wissenschaft sei die Entschlüsselung des Quastenflosser-Genoms von größtem Interesse, sagt Schartl. Der Fisch repräsentiere den direkten Vorfahren von Amphibien, Reptilien, später Vögeln und irgendwann natürlich auch der Säugetiere; an ihm ließe sich die Arbeit der Evolution in einzigartiger Weise studieren. Mit diesem Wissen könnten Wissenschaftler nun unter anderem auf der Ebene von Proteinen nachverfolgen, wie diese im Laufe der Evolution entstanden sind.

Dass die Forschung sich jetzt nicht auf den Lungenfisch konzentriert, obwohl dieser mit dem ersten „Landgänger“ noch enger verwandt ist als der Quastenflosser, hat zwei Gründe: Zum einen hat sich der Lungenfisch seitdem sehr viel stärker verändert als der „mutationsarme“ Quastenflosser. Deshalb seien Ereignisse, die vor 400 Millionen Jahren geschehen sind, an heute lebenden Exemplaren nicht mehr nachzuvollziehen. Zum anderen ist sein Genom um ein Vielfaches größer. Während das Quastenflosser-Genom aus rund drei Milliarden Bausteinen zusammengesetzt ist – so viele wie beim menschlichen Genom, sind es beim Lungenfisch geschätzte 100 Milliarden. Die zu sequenzieren, zu gruppieren und zu analysieren, sei heute technisch noch nicht möglich.

Der Anfang weiterer Analysen

Gut möglich, dass das Genom des Quastenflossers weitere wichtige Informationen enthält für Wissenschaftler, die die Evolution der Landgliedertiere erforschen. „Dies ist erst der Anfang von vielen Analysen, mit denen uns der Quastenflosser etwas über den Gang an Land und die Entwicklung von Landwirbeltieren, inklusive der Menschen, erzählen kann“, sagt Manfred Schartl. Mit Hilfe moderner empirischer Methoden könne die Wissenschaft nun Auskunft erhalten über zentrale Mechanismen, die bedeutende evolutionäre Fortschritte in Gang setzen.

“The African coelacanth genome provides insights into tetrapod evolution.” Chris T. Amemiya et al., Nature, doi:10.1038/nature12027

Kontakt

Prof. Dr. Manfred Schartl, Lehrstuhl für Physiologische Chemie I, T: (0931) 31-84149, phch1@biozentrum.uni-wuerzburg.de

Media Contact

Gunnar Bartsch Uni Würzburg

Weitere Informationen:

http://www.uni-wuerzburg.de

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