Krebs per Fernsteuerung: Bisher unbeachtete DNA-Umlagerung steuert tödlich verlaufende Form eines pädiatrischen Gehirntumors

Dies fanden Wissenschaftler am Europäischen Institut für Molekularbiologie (EMBL) und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), beide in Heidelberg, sowie dem US-amerikanischen Sanford-Burnham Medical Research Institute in San Diego heraus. Die Studie wird heute online in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Bislang war MYC das einzige Gen, von dem man wusste, dass es eine wichtige Rolle bei Medulloblastomen der Gruppe 3 spielt, doch konnte MYC allein einige der besonderen Eigenschaften von Medulloblastomen nicht hinreichend erklären, die eine höhere Metastasierungsrate und eine insgesamt schlechtere Prognose als andere Arten dieses pädiatrischen Gehirntumors aufweisen.

Um diesem Problem auf den Grund zu gehen, identifizierten die Forschungsgruppen um Jan Korbel am EMBL und seine Kooperationspartner am DKFZ neue relevante Gene. Dabei konnten sie auf eine große Anzahl bereits sequenzierter Krebsgenome zurückgreifen.

“Wir waren überrascht, dass es neben MYC noch zwei andere wesentliche Entstehungsfaktoren bei Medulloblastomen der Gruppe 3 gibt – dabei handelt es sich um zwei Schwestergene mit der Bezeichnung GFI1B und GFI1,” so Korbel.

“Diese Untersuchungsergebnisse könnten für die Erforschung anderer Krebsarten relevant sein, da unseren Studien zufolge diese Gene auf eine Art und Weise aktiviert werden, nach der Krebsforscher normalerweise nicht gezielt suchen.”

Statt den üblichen Ansatz zu wählen und nach Veränderungen bei einzelnen Genen zu suchen, konzentrierte sich das Team auf umfangreiche Umlagerungen in den DNA-Abschnitten, die zwischen den Genen liegen. Dabei beobachteten sie, dass die DNA der einzelnen Patienten unterschiedliche Umlagerungen aufwies: Duplikationen, Deletionen, Inversionen, ja sogar komplexe Veränderungen mit zahlreichen DNA-Umlagerungen, die offenbar zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden waren.

Alle diese genetischen Veränderungen hatten eines gemeinsam: sie rückten GFI1B in die Nähe hochaktiver Enhancer – d.h. von DNA-Abschnitten, die die Genaktivität unter Umständen dramatisch verstärken. So können umfangreiche DNA-Veränderungen GFI1B umlagern und dieses Gen in Zellen aktivieren, in denen es normalerweise abgeschaltet wäre. Und dies, so vermuten die Wissenschaftler, ist der Auslöser für die Entstehung des Tumors.

“Bisher hat niemand einen solchen Prozess bei einem soliden Krebstumor beobachten können,” so Paul Northcott vom DKFZ, “obwohl er Ähnlichkeiten mit einem Phänomen aufweist, das mit Leukämie in Verbindung gebracht wird und das seit den 80er Jahren bekannt ist.”

GFI1B war nicht in allen untersuchten Fällen betroffen, doch war es dann stattdessen bei vielen dieser Patienten GFI1, ein anderes Gen mit einer ähnlichen Funktion. GFI1B und GFI1 befinden sich auf unterschiedlichen Chromosomen und interessanterweise sorgen die GFI1-betreffenden DNA-Umlagerungen dafür, dass es in die Nähe von Enhancern gerückt wird, die auf einem weiteren Chromosom sitzen. Dennoch war das Ergebnis stets dasselbe: das Gen wurde aktiviert und schien die Entstehung des Tumors zu steuern.

Um zu bestätigen, welche Rolle GFI1B und GFI1 bei der Entstehung von Medulloblastomen spielen, griffen die Heidelberger Wissenschaftler auf die Expertise der Forschungsgruppe um Robert Wechsler-Reya am Sanford-Burnham Institute zurück. Dazu wurden in seinem Labor neuronale Stammzellen genetisch so  modifiziert, dass entweder GFI1B oder GFI1 angeschaltet waren, gemeinsam mit MYC.

Nachdem diese modifizierten Stammzellen dann in die Gehirne gesunder Mäuse eingepflanzt worden waren, entwicklten die Nager aggressive, metastasierende Gehirntumore, die denen der Medulloblastome der Gruppe 3 stark ähnelten. Mithilfe dieser Mäuse gelang es zum ersten Mal, die Genetik der menschlichen Version der Medulloblastome der Gruppe 3 genau nachzuvollziehen und die Wissenschaftler werden dies nun für weitere Forschungen nutzen. So könnten an den Mäusen z.B. potentielle Behandlungsmethoden getestet werden, die sich aus den Untersuchungsergebnissen ergeben haben.

Ein vielversprechender Ansatz dabei wäre den Wissenschaftlern zufolge, hochaktive Enhancer genauer unter die Lupe zu nehmen, die an der Entstehung dieses Tumors beteiligt sind, da sie möglicherweise auf eine Behandlung mit bereits existierenden Bromodomän-Inhibitoren ansprechen. Und da weder GFI1B noch GFI1 normalerweise im Gehirn aktiv sind, könnte die Studie auch neue Wege für die Diagnose des Gehirntumors aufzeigen.

Die Mäuse werfen darüber hinaus eine weitere Frage auf, an der die Wissenschaftler noch arbeiten. Bei den Nagern reichte die Aktivierung von GFI1 oder GFI1B  allein nicht aus, damit sie medulloblastomähnliche Tumore entwickelten. Es bedurfte außerdem der Aktivierung von MYC. Doch beim Menschen haben die Wissenschaftler zwar eine statistische Verbindung zwischen MYC und GFI1 herstellen können, nicht jedoch zwischen MYC und GFI1B, so dass sich das Team nun mit der Klärung dieser Frage beschäftigen wird.

“Die Studie zeigt ganz klar, dass es sich lohnt, bei der Erforschung von Krebsgenomen auch mal um die Ecke zu denken.” so Korbel abschließend.

Veröffentlicht in Nature am 22. Juni 2014.DOI: 10.1038/nature13379.

Weitere Informationen: www.embl.org/press/2014/140622_Heidelberg.

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