Komplettes Erbgut von 40 Zwillingspaaren als Schlüssel zur medizinischen Forschung

Auf der Suche nach erblichen Ursachen chronisch entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa hat der deutsche Exzellenzcluster zur Erforschung von „Entzündungen an Grenzflächen“ ein bisher einzigartiges Mammut-Projekt gestartet. Die Schlüsselrolle spielen dabei 40 Zwillingspaare, bei denen ein Zwilling an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn leidet, während der andere gesund ist.

Im Verlauf des Forschungsvorhabens soll das Erbgut der 40 Zwillingspaare komplett entschlüsselt werden, um der Krankheitsursache auf die Schliche zu kommen und neue Therapien zu finden. Um die Datenfülle dieser insgesamt 80 Menschen zu bewältigen, laufen die vom Human Genome Project bekannten sogenannten Sequenzer drei Jahre lang rund um die Uhr auf Hochtouren. Bisher wurden bereits rund acht Millionen Euro in das Projekt, vor allem für Hard- und Software, investiert.

Zwei Drittel der Zwillingspaare aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden nach Hamburg ins Asklepios Westklinikum Hamburg-Rissen eingeladen, wo ihnen Spezialisten per Darmspiegelung eine Schleimhautprobe zur weiteren Untersuchung entnahmen. Den übrigen Zwillingspaaren wurden die Proben am Heimatort entnommen. Die Proben werden in den Laboratorien der Kieler Christian-Albrechts-Universität analysiert und der genetische Code erkrankter und gesunder Probanden Abschnitt für Abschnitt verglichen. Dabei kommen die neuesten genetischen Technologien zum Einsatz. Es ist geplant, sowohl das sogenannte Mikrobiom (Summe aller Bakterien auf der Darmoberfläche) als auch das Genom (die Erbsubstanz) der Zwillinge vollständig vergleichend zu sequenzieren.

Entscheidender Durchbruch im Verständnis der auslösenden Ursachen erwartet

„Von der Exploration der Zwillingskohorte mit modernen genetischen Methoden erwarten wir uns einen entscheidenden Durchbruch im Verständnis der auslösenden Ursachen, sowohl was die Genetik angeht als auch was die Faktoren des Lebensstils betrifft“, sagt Prof. Dr. Stefan Schreiber, der wissenschaftliche Projektleiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: „Trotzdem können wir nicht genügend Zwillinge für die Forschung zur Verfügung haben. Diese Experimente erfordern einen unglaublichen technologischen Aufwand aber leider auch sehr große Fallzahlen.“ „Wir wären froh, wenn es uns gelänge, noch möglichst viele weitere Zwillingspaare zu rekrutieren“, ergänzt Prof. Dr. Andreas Raedler, der klinische Projektleiter am Asklepios Westklinikum Hamburg.

In der Epidemiologie waren Zwillinge schon immer interessant: Das Experiment der Natur, in dem zweieiige Geschwisterkinder in derselben Gebärmutter entstehen oder eineiige Zwillinge weitgehend das gleiche Erbmaterial tragen, lässt eine Abschätzung des erblichen Anteils von Krankheiten zu. Bei Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa legt die sogenannte Konkordanz von fast 56 Prozent (Morbus Crohn, eineiige Zwillinge) gegenüber vier Prozent (zweieiige Zwillinge) ein klares Zeugnis der genetischen Ursachen ab. Im Umkehrschluss zeigen die Daten aber auch, dass trotz genetisch (fast) gleicher Voraussetzungen in 44 Prozent der Fälle nicht beide Zwillinge die gleiche Krankheit entwickeln. Es muss also im Leben dieser Zwillinge klare Hinweise auf auslösende Umweltfaktoren geben.

Lebenslauf-Analysen von 200 Zwillingspaaren lieferten erste Hinweise

Die Zwillingsforschung der Christian-Albrechts-Universität Kiel und des Asklepios Westklinikums Hamburg greift auf eine eindrucksvolle Kohorte von fast 200 ein- und zweieiigen Zwillingspaaren zurück, von den jeweils ein Zwilling an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung leidet. In einem ersten Schritt wiesen Analysen der Lebensläufe der Zwillinge darauf hin, dass die individuelle Prägung, zum Beispiel durch Infektionskrankheiten, eine entscheidende Rolle als Krankheitsauslöser spielt. In weiteren Analysen fanden die Forscher Beweise für die besondere Rolle der Darmflora und der Genexpression in der Darmschleimhaut bei der Krankheitsentstehung.

Morbus Crohn

Der Morbus Crohn ist eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, die überall im Verdauungssystem auftreten kann, vom Mund bis zum After. Häufig sind mehrere Abschnitte des Verdauungssystems gleichzeitig befallen (segmentaler Befall). Die Ursache der nach dem amerikanischen Gastroenterologen Burrill B. Crohn benannten Erkrankung ist bislang ungeklärt. Erste Symptome sind meist Müdigkeit, Schmerzen im rechten Unterbauch und Durchfälle. Auch Fieber, Gewichtsverlust, Übelkeit und Erbrechen treten häufig auf. Bei jedem zweiten Patienten bleibt Morbus Crohn nicht auf das Verdauungssystem beschränkt sondern befällt Gelenke, die Haut oder auch das Auge.

Colitis Ulcerosa

Im Unterschied zum Morbus Crohn breitet sich die Colitis Ulcerosa kontinuierlich in der Schleimhaut von Mast- und Dickdarm aus. Typische Symptome sind immer wiederkehrende Durchfälle, Darmblutungen und Koliken. Häufig schreitet die Erkrankung schleichend voran, es gibt aber auch akute und schwerste Verläufe. Auch die Colitis ulcerosa kann unter anderem Gelenke, Haut und Augen in Mitleidenschaft ziehen – und auch ihre Ursache ist bis heute nicht restlos geklärt.

Media Contact

Jens Oliver Bonnet idw

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Bakterien für klimaneutrale Chemikalien der Zukunft

For­schen­de an der ETH Zü­rich ha­ben Bak­te­ri­en im La­bor so her­an­ge­züch­tet, dass sie Me­tha­nol ef­fi­zi­ent ver­wer­ten kön­nen. Jetzt lässt sich der Stoff­wech­sel die­ser Bak­te­ri­en an­zap­fen, um wert­vol­le Pro­duk­te her­zu­stel­len, die…

Batterien: Heute die Materialien von morgen modellieren

Welche Faktoren bestimmen, wie schnell sich eine Batterie laden lässt? Dieser und weiteren Fragen gehen Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit computergestützten Simulationen nach. Mikrostrukturmodelle tragen dazu bei,…

Porosität von Sedimentgestein mit Neutronen untersucht

Forschung am FRM II zu geologischen Lagerstätten. Dauerhafte unterirdische Lagerung von CO2 Poren so klein wie Bakterien Porenmessung mit Neutronen auf den Nanometer genau Ob Sedimentgesteine fossile Kohlenwasserstoffe speichern können…

Partner & Förderer