Kleinkinder imitieren weniger vernunftbetont als gedacht

„Kinder sind klüger als wir denken“, zu diesem Schluss kam vor zehn Jahren eine vielzitierte entwicklungspsychologische Studie. Beobachteten 14 Monate alte Kleinkinder eine ungewöhnliche Handlung, ahmten sie diese seltener nach, wenn sie aus den Handlungsumständen erklärbar war.

Diese selektive Imitation gilt seitdem als Beleg für frühes rationales Denken. Doch wie Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften nun nachweisen, hat man die Kinder damit offenbar überschätzt. Eine Überprüfung zeigte, dass die Unterschiede im Imitationsverhalten durch Ablenkungen während des Experimentes zustande kamen.

Schon seit langem erforscht die Entwicklungspsychologie das Imitationsverhalten im Kleinkindalter, um daraus Rückschlüsse auf das frühe Handlungsverständnis zu ziehen. Eine Studie, die im Fachjournal Nature veröffentlicht wurde, schien 2002 beeindruckende kognitive Fähigkeiten zu offenbaren. Im Experiment saßen Kleinkinder einer Person gegenüber, die eine eigentümliche Handlung vormachte: Sie beugte sich herunter und drückte, obwohl ihre Hände frei waren, mit dem Kopf auf eine vor ihr liegende Lampe, die daraufhin aufleuchtete. Wurde den Kindern die Lampe später vorgesetzt, kopierten sie dieses Verhalten in zwei Drittel der Fälle.

Dagegen sank die Imitationsrate auf nur noch etwa 20 Prozent, wenn die Hände der Person während der „Kopfbewegung“ nicht frei waren. Sie hielt dann eine um den Oberkörper gewickelte Decke fest, die ihr sonst nur lose über den Schultern lag. Scheinbar wählten die Kinder sehr bewusst aus, was sie imitierten. Nach bisheriger Interpretation erkannten sie das Ziel der Handlung und nahmen an, dass der Einsatz des Kopfes im ersten Fall einen Vorteil haben müsse, während er im zweiten Fall nur eingesetzt wurde, weil die Hände der Person nicht frei waren.

Mitarbeiter der Forschungsgruppe prüften nun eine einfachere Erklärung: „Mit der farbigen, um den Körper geschlungenen Decke hatte die zweite Versuchsbedingung ein auffälliges Element“, sagt Miriam Beisert, die Erstautorin der Replikationsstudie. „Der ungewohnte Anblick könnte von der eigentlichen Handlung abgelenkt haben.“

Um den Einfluss von Ablenkungsreizen zu testen, wiederholte die Forscherin das Experiment und fügte zwei zusätzliche Versionen hinzu, die sich in Details unterschieden. Zum einen wurde den Kindern Zeit gegeben, sich an den Anblick der in die Decke gewickelten Person zu gewöhnen. Erst dann wurde ihnen die Kopfbewegung vorgemacht. Nun imitierten sie die Handlung in etwa 70 Prozent der Fälle. Ob die Hände frei waren, spielte also augenscheinlich keine Rolle. Wie wichtig dagegen der Einfluss ablenkender Reize war, zeigte sich, als die Forscher während der ursprünglichen „Hände frei“-Bedingung einige auffällige rote Smileys auf den Tisch platzierten. Dadurch sank die Imitationsrate deutlich.

„Der Ansatz des rationalen Imitierens ist damit nicht mehr haltbar“, sagt Forschungsgruppenleiter und Mitautor Moritz Daum. Derzeitige Annahmen über kindliches Imitationsverhalten müssten nun neu überdacht werden, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Ansprechpartner
Peter Zekert
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Telefon: +49 341 9940-2404
Fax: +49 341 9940-2221
E-Mail: zekert@cbs.mpg.de
Originalveröffentlichung
Miriam Beisert, Norbert Zmyj, Roman Liepelt, Franziska Jung, Wolfgang Prinz, Moritz M. Daum
Rethinking ‘Rational Imitation’ in 14-Month-Old Infants: A Perceptual Distraction Approach.

PloS ONE, 15. März 2012

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Peter Zekert Max-Planck-Institut

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