Wie Hirnzellen mit Rechenregeln umgehen

Viele Situationen des Alltags erfordern Entscheidungen, die auf der Verarbeitung von Zahlen nach bestimmten Regeln beruhen. Wir wählen den Arbeitsplatz, der die beste Bezahlung verspricht, aber entscheiden uns beim Einkaufen für das Produkt mit dem niedrigsten Preis.

Flexible „Größer-als/ Kleiner-als“-Entscheidungen sind nicht nur die Voraussetzung für vernünftiges und zielgerichtetes Verhalten, sie legen auch den Grundstein für mathematische Operationen. Logische Aufgaben wie eben Größenvergleiche gehören deshalb zu den ersten Rechenoperationen, die Kinder in der Grundschule lernen. Neurobiologen der Universität Tübingen aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Andreas Nieder konnten nun erstmals zeigen, wie Gehirnzellen einfache mathematische Regeln verarbeiten. Die Arbeit wird in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) online vorab veröffentlicht (Ausgabe 18.-24. Januar 2010).

Mengenvergleiche und Regelverständnis sind beim Menschen in sehr hoher Qualität ausgeprägt, ihre Fundamente sind aber bereits im Tierreich anzutreffen. Um herauszufinden, wie und wo im Gehirn Nervenzellen diese komplexen Aufgaben lösen, haben die Wissenschaftler des Instituts für Neurobiologie Rhesusaffen am Computer trainiert, Punktemengen nach Regeln zu vergleichen. War z.B. die „Größer als“-Regel ihre Aufgabe, mussten die Tiere eine Menge wählen, die mehr Punkte als die vorherige Vergleichsmenge zeigte. Im Falle der „kleiner als“-Regel sollte die kleinere Menge gewählt werden. Da sich sowohl die Größe der Vergleichsmenge als auch die Regel bei jedem Testdurchlauf zufällig ändern konnte, waren die Tiere gefordert, immer konzentriert mitzuarbeiten. Während die Tiere die Aufgaben lösten, fanden sich bei Messungen Gehirnzellen mit erstaunlichen Reaktionen im Bereich des Stirnhirns, dem so genannten Präfrontalkortex etwa im Bereich der Schläfen. Unabhängig davon, wie groß die zu vergleichenden Punktemengen waren, die Gehirnzellen konzentrierten sich offenbar ganz auf die Rechenregel: Die eine Hälfte der Nervenzellen wurde nur dann aktiv, wenn die Regel „größer als“ zu befolgen war, die andere Hälfte der Gehirnzellen nur dann, wenn dem Tier die Regel „kleiner als“ mitgeteilt worden war.

Mit der neuen Arbeit ergeben sich wertvolle Einblicke in die neurobiologischen Grundlagen höchst abstrakter Denkprozesse, wie sie für Rechenoperationen notwendig sind. „Es geht uns zunächst konkret darum, herauszufinden, wie Nervenzellen Zahlen und Rechenoperationen verarbeiten“ erklärt Andreas Nieder, „wir benutzen unsere Untersuchungen über die Verarbeitung von Zahleninformation aber auch bewusst, um Zugang zu den komplexen Denkprozessen des Gehirns zu finden.“ Gerade die Großhirnrinde am vorderen Bereich des Kopfes stellt das höchste kognitive Steuerzentrum des Gehirns dar und bringt persönlichkeitsbildende geistige Funktionen hervor: So ist bekannt, dass Schädigungen des vorderen Stirnhirns (z.B. nach Schlaganfall oder Hirnverletzungen) zielgerichtetes logisches Denken und Schlussfolgern beeinträchtigen. Die neue Studie gibt wichtige Hinweise darauf, wie das gesunde Gehirn die Befolgung abstrakter Rechenregeln hervorbringt. Dies ist die Grundlage dafür, krankhafte Veränderungen im Umgang mit Zahlen und anderer abstrakter Information besser zu begreifen und langfristig Therapien zu entwickeln.

Originalveröffentlichung: Sylvia Bongard and Andreas Nieder: Basic mathematical rules are encoded by primate prefrontal cortex neurons. PNAS, Online Early Edition, Januar 18.-24., 2010. http://www.pnas.org/content/early/recent

Kontakt:

Prof. Dr. Andreas Nieder
Tierphysiologie, Institut für Neurobiologie, Universität Tübingen
Tel.: + 49 (0)7071 / 29 75347
E-mail: andreas.nieder@uni-tuebingen.de

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Michael Seifert idw

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