Der komplette Zellatlas und Stammbaum eines unsterblichen Plattwurms

Visualisierung der Boten-RNA, exprimiert in der Epidermis (oben), im Gehirn und den Nerven (Mitte) und den sekretorischen Zellen (unten) der Planarien. Die Dunklen Flecken sind die Augen des Tieres. Salah Ayoub und Jordi Solana, BIMSB/MDC

Wie werden aus einheitlichen Stammzellen komplexe Körperzellen mit sehr unterschiedlichen Funktionen? Die Differenzierung von Stammzellen in verschiedenste Körperzellen ist eine zentrale noch ungelöste Frage der modernen Medizin.

Einen bedeutenden Fortschritt stellt eine umfangreiche Studie dar, die eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin, und vom Helmholtz Zentrum München in „Science“ publiziert hat.

Durch Kombination von Einzelzell-RNA-Technologie mit Nukleinsäure-Sequenzierung und computerbasierten Analysemethoden hat das Forscherteam den detaillierten Zellatlas eines komplexen ausgewachsenen Organismus, des Plattwurms Schmidtea mediterranea, erstellt und einen detaillierten Stammbaum der identifizierten Zellen rekonstruiert.

Die Arbeit gibt darüber hinaus Einblick in die molekularen Vorgänge bei der Geweberegeneration. „Sie öffnet die Tür für neue Forschungsansätze, die sich mit der zellulären Zusammensetzung von Organen und Geweben oder den molekularen Mechanismen der Regeneration befassen“, erklärt Professor Nikolaus Rajewsky, Leiter des Berlin Institute for Medical Systems Biology (BIMSB), MDC und leitender Autor der Studie.

Umfassender Stammbaum mit 23 Differenzierungswegen ausgehend von Stammzellen

Plattwürmer wie Schmidtea mediterranea sind als Studienobjekte sehr geeignet, weil sie unsterblich sind und sich aus einzelnen Teilstücken wieder zum kompletten Organismus regenerieren können. Mit Hilfe einer großen Anzahl an Stammzellen erneuern diese Tiere ständig alle Gewebe und Zelltypen. „Um besser zu verstehen, wie sich verschiedenste Zelltypen ausdifferenzieren, müssen wir die Genexpressions-Profile von Zellen unterschiedlicher Differenzierungsstadien vergleichen, so wie man sie bei Plattwürmern findet“, sagt Dr. Mireya Plass, Wissenschaftlerin im BIMSB, MDC.

„Wir haben ganze Würmer zerlegt und tausende verschiedener Zellen auf ihre RNA-Transkripte untersucht.“ So konnten 37 unterschiedliche Zelltypen identifiziert werden, 23 davon im spätesten Differenzierungsstadium, außerdem mehrere Stammzell-Typen und unterschiedliche Vorläuferzellen.

„Mit Hilfe eines neuen Computer-Algorithmus, PAGA, der von unseren Kooperationspartnern Dr. Alexander Wolf und Professor Fabian Theis in München entwickelt wurde, konnten wir auf Basis dieses Datensatzes einen Stammbaum entwerfen, der alle identifizierten Zelltypen einschließt, und aus einer Gruppe von Stammzellen entsteht”, sagt Dr. Christine Kocks, vom BIMSB, MDC. Um den Stammbaum wissenschaftlich abzusichern und möglichst robust zu machen, wurde der Entwurf mit Daten aus weiteren computerbasierten und experimentellen Analysen abgeglichen:

Dazu gehörten Sequenzierungen von gereinigten Stammzellen oder differenzierten Zellen, Änderungen im Muster der Genexpression, Zell-Stammbaumvorhersagen mit PAGA und Ergebnisse eines neuen Algorithmus, velocyto. Mit velocyto können zukünftige Stadien der Zellentwicklung aus dem Verhältnis von Vorstufen und fertigen Boten-RNA Molekülen vorhergesagt werden. Dem Forscherteam ist es zudem gelungen, neue Genprogramme zu identifizieren, die bei den verschiedenen Differenzierungswegen wichtig sind.

Darüber hinaus fanden die Wissenschaftler mehrere neue Zelltypen im Parenchym der Plattwürmer, die bei früheren molekularbiologischen Untersuchungen übersehen wurden, aber eine wichtige Rolle für die Regeneration spielen. Der Anteil dieser Zellen ist bei Würmern, die Körperteile regenerieren müssen, erheblich reduziert. Dies weist darauf hin, dass diese Zellen und ihre Abbauprodukte als „Treibstoff“ die nötige Energie für den Umbau und Wiederaufbau des Gewebes liefern.

Informationen und Anleitungen online für die „Scientific Community“

Wissenschaftler weltweit haben ab sofort Zugang zu den neuen Daten zur Plattwurm-Biologie und den Methoden, die für die Analysen verwendet wurden. „Unsere Arbeit ermöglicht Studien zu Stammzellen und ihren Stammbäumen auch in einer Vielzahl anderer Organismen und Lebewesen.

Damit nicht nur die Plattwurm-Experten davon profitieren, sondern auch für Wissenschaftler, die ähnliche Studien an anderen Organismen durchführen wollen, haben wir eine Art „Kochanleitung“ verfasst,“ sagt Dr. Jordi Solana, früher BIMSB, MDC, derzeit Oxford Brookes University, UK. Mit Hilfe einer interaktiven App (https://shiny.mdc-berlin.de/psca/) können Veränderungen im Expressionsverhalten von Genen bei der Differenzierung von Zellen nachvollzogen werden.

Ein Tutorial mit einer detaillierten Anleitung für die Anwendung des PAGA-Algorithmus ist unter https://github.com/rajewsky-lab/planarian_lineages zu finden. „Die Einzelzell-Biologie wird für die Entwicklungs- und Regenerationsbiologie unverzichtbar werden“, fasst Nikolaus Rajewsky zusammen.

Literatur

Mireya Plass et al. (2018): “Cell type atlas and lineage tree of a whole complex animal by single-cell transcriptomics,“, Science. Advance Online Publication 19.04.2018, doi:10.1126/scienc.aaq1723

Über das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können.

Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren.

www.mdc-berlin.de 

https://www.mdc-berlin.de/n-rajewsky Website der AG Nikolaus Rajewsky
https://shiny.mdc-berlin.de/psca/ Shiny Web App „Planaria Single Cell Atlas“
https://github.com/rajewsky-lab/planarian_lineages Tutorial für die Anwendung des PAGA-Algorithmus

Media Contact

Annette Tuffs Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft

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