Wie kristallisiert Aspirin?

Wer Kopfweh hat, greift meist zu Aspirin. Was Forschern Kopfweh bereitet, ist die Frage nach der Kristallstruktur des Aspirins. Gibt es neben der lange bekannten Form tatsächlich noch eine weitere?

Ein Wissenschaftlerteam aus Indien, Deutschland und Dänemark scheint diese kontrovers diskutierte Frage nun gelöst zu haben: Ja, es gibt eine zweite Struktur – aber nicht als Reinform. „Die beiden kristallinen Formen von Aspirin sind so nahe verwandt,“ erläutert das Forscherteam Andrew D. Bond, Roland Boese und Gautam R. Desiraju in der Angewandten Chemie, „dass sie Strukturen bilden, die Domänen beider Strukturen enthalten.“

2004 ergaben Computerberechnungen, dass die lang bekannte Kristallstruktur von Aspirin („Form I“) zwar durchaus eine der stabilsten Formen ist, daneben aber noch eine weitere, ebenso stabile Variante existieren sollte, die es noch zu entdecken galt – eine große Herausforderung für Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Der Unterschied zwischen den vorgeschlagenen Strukturen ist gering: Beide enthalten identischer Schichten aus paarweise angeordneten Molekülen, diese Schichten sind jedoch in den beiden Strukturen unterschiedlich zueinander angeordnet. 2005 vermeldeten Forscher in den USA dann, diese vorhergesagte Struktur („Form II“) entdeckt zu haben. Nur ein Artefakt?

Bond, Boese und Desiraju, die Aspirin-Kristalle sehr genau untersucht haben, können die Angelegenheit nun aufklären: „Aspirin hat die Tendenz, in einer ungewöhnlichen ineinandergewachsenen Struktur zu kristallisieren. Im selben Einkristall finden sich beide Schichtanordnungen nebeneinander.“ Die Verteilung und das Verhältnis der Domänen sind variabel, aber eingeschränkt. Während es eine reine Form I gibt, ließen sich bisher nur Kristalle gewinnen, die maximal 85% von Form II enthalten. Das Verhältnis der Domänen innerhalb der Kristalle von Chargen, die unter den gleichen Bedigungen hergestellt wurden, scheint dabei in etwa konstant zu sein.

Dieser ungewöhnliche Befund wirft grundlegende Prinzipien über den Haufen und fordert neue Begrifflichkeiten: Unter „Polymorphie“ verstand der Chemiker bisher, dass ein Molekül entweder die eine oder die andere Packungsanordnung im kristallinen Zustand annehmen kann, ein Einkristall einer bestimmten chemischen Substanz ist entweder das eine oder das andere Polymorph. Aspirin ist der erste Fall, in dem zwei verschiedene „polymorphe“ Schichtanordnungen innerhalb eines Einkristalls existieren. Ist Aspirin also polymorph oder nicht? Sollte die Definition von Polymorphie aktualisiert werden? Solche Fragen sind nicht nur philosophischer Natur, sondern können handfeste patenrechtliche Auswirkungen haben: Jedes Polymorph einer Verbindung wird nämlich als einzelner Patentgegenstand gesondert betrachtet.

Angewandte Chemie: Presseinfo 50/2006

Autor: Roland Boese, Universität Duisburg-Essen (Germany), http://www.structchem.uni-essen.de/contact/kontakten.htm

Angewandte Chemie 2007, 119, No. 4, 621-630, doi: 10.1002/ange.200602378

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