Leben unter Druck

Für die Heidelberger Systemphysiologen und Biophysiker, Privatdozent Dr. Dr. Oliver Friedrich und seinen Assistenten Frederic v. Wegner, beide aus dem Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg – Arbeitsgruppe um Prof. Rainer H. A. Fink – sollte die diesjährige Teilnahme an der Kaiyo-6/11-Mission im Pazifischen Ozean eine ungewöhnliche und viel versprechende Erweiterung ihres wissenschaftlichen Spektrums werden.

Ungewöhnliche wissenschaftliche Missionen stellen die von der japanischen Regierungseinsrichtung „Japanese Agency for Marine-Earth Science and Technology (JAMSTEC)“ in Yokosuka, Japan, ausgetragenen Tiefsee-Forschungsexpeditionen durchweg dar. Ob Untersuchung geologischer Aktivitäten aktiver Tiefsee-Vulkane, Probennahme von Mineralien und Mikroorganismen aus den tiefsten Bereichen der Welt bis zu 11 000 Meter oder die Untersuchung von Tiefsee-Fischen vom Pazifischen Ozean bis zur Antarktis, die japanische Regierung hält hierfür acht mit mehreren Laboratorien ausgestattete Forschungs-Schiffe bereit, um den Tiefen der Meere näher zu kommen.

Die vom 30. September bis 8. Oktober durch Mittel des EU COST-Programms und der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte Teilnahme an der Mission mit insgesamt fast 30 vor allem japanischen Wissenschaftlern an Bord, wurde für die international ausgewiesenen Elektrophysiologen aus Heidelberg eine neuartige wissenschaftliche Herausforderung. Hierzu sollten die während der Lebend-Fangaktionen mit elektronisch gesteuerten Netzen Tiefseefische aus Tiefen bis zu 1 000 Meter geborgen werden und ihre intakte Muskulatur bezüglich der elektrischen Erregbarkeit untersucht werden.

Die Erregbarkeit der Muskelmembran ist für jegliche Bewegung unerlässlich. „Dies ist eine einmalige Chance für die Tiefsee-Physiologie“, sagt Dr. Friedrich, der sich schon seit Jahren mit den Auswirkungen hoher hydrostatischer Drücke auf Muskelzellen beschäftigt. „Man weiß einiges zur Morphologie, Biochemie und zu Proteinmuster in Tiefsee-Organismen, aber so gut wie nichts über deren Physiologie im intakten Präparat. Man kann dies auch nur vor Ort testen, da fixierte Präparate nicht mehr elektrophysiologisch untersucht werden können. Es ist faszinierend, dass manche Spezies mehrere tausend Meter an Wassersäule überhaupt überleben können. Man weiß, dass Fische eine spezielle Substanz in Form eines Osmolytes produzieren, welcher den osmotischen Druck im Fisch erhöht und mit zunehmender Tauchtiefe den äußeren hydrostatischen Druck kompensiert. Diese Substanz ist interessanterweise genau diejenige, welche den typischen „Fischgeruch“ ausmacht. Welche Veränderungen sich jedoch physiologisch, zum Beispiel an der Membran ergeben, ist völlig unbekannt.“

Zur Durchführung des Projektes mussten 50 kg an Geräten nach Japan verschickt werden, welche auf dem Schiff aufgebaut wurden. Hier zeigten sich auch schnell die Grenzen hoch empfindlicher elektrophysiologischer Messungen auf hoher See. Maschinenraum-Schwingungen, Seegang und ungeglättete Generatorspannung erschwerten die Aufzeichnungen, so dass gewisse Techniken, wie Voltage-Clamp, auf hoher See nur mit viel höherem Aufwand durchführbar sind. Dennoch konnten eine ganze Reihe von Membransignalen der ruhenden Zellen stabil aufgezeichnet werden.

Die Probennahme erfolgte generell nachts, und die Öffnung der Netze wurde von allen Beteiligten stets mit hoher Spannung erwartet. Danach wurden die Präparate schnell verteilt. Neben den beiden Heidelberger Physiologen waren eine Reihe von Wissenschaftlern japanischer Großaquarien, Museumskuratoren, Morphologen und Biochemiker dabei. Der Wissensaustausch gerade mit diesen Disziplinen war sehr aufschlussreich: „Wir haben unter anderem gelernt, dass es bei Fischen eine Rechts-Links-„Händigkeit“ gibt, die sich in morphologischer Asymmetrie der Körperachse und des Mauls äußert. Die Bedeutung und Physiologie solcher Phänomene ist jedoch noch gänzlich unerforscht, könnte jedoch mit Räuber-Beute-Beziehungen in Zusammenhang stehen.

Obwohl während der Mission die Bildung eines Doppel-Taifuns in unmittelbarer Nähe des Einsatzgebietes im Pazifischen Ozean die Probennahme vorzeitig beendete, konnten alle Beteiligten zahlreiche Daten sammeln, welche in den Folgemonaten nun ausgewertet werden. Die Heidelberger sind sehr zufrieden. „Mit diesem Projekt können wir als Systemphysiologen nun auch die Brücke schlagen zwischen völlig unterschiedlichen Biosystemen: der hoch spezialisierte Organismus Tiefseefisch ergänzt nun auch unser bisheriges Forschungsrepertoire, welches Amphibien, Kleinsäuger und den Menschen umfasst“, resümiert Dr. Friedrich.

Für nächstes Jahr ist eine weitere Mission von japanischer Seite aus schon bewilligt. Die Einladung steht bereits.

Weitere Informationen:
Priv.-Doz. Dr. Dr. Oliver Friedrich
Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg
Tel. 06221 544143
oliver.friedrich@physiologie.uni-heidelberg.de
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