Kein Zurück zum Nicht-Wissen

Gentests sollen freiwillig sein. Ihre Folgen sind allerdings nicht immer absehbar. Bürger und Experten diskutieren auf dem Berliner Wissenschaftssommer über die Gendiagnostik: Kristallkugel oder Lebensplaner?

Habe ich ein höheres Risiko, durch Schadstoffe an meinem Arbeitsplatz an Krebs zu erkranken? Trage ich ein erbliches Risiko für Brustkrebs? Wird mein Kind gesund zur Welt kommen oder an einer Erbkrankheit leiden? Schon heute stehen Gentests zur Verfügung, die solche Fragen beantworten. In naher Zukunft dürften es mehr werden. Die Tests geben Auskunft über genetische Veranlagungen eines Menschen oder eines werdenden Lebens für verschiedene Erkrankungen. Mit den Auswirkungen der Gendiagnostik setzten sich Experten auf einer Veranstaltung des Wissenschaftssommers in Berlin auseinander.

Einen entscheidenden Unterschied zwischen Gentests und klassischen Diagnoseverfahren stellte der Biomathematiker Professor Max Baur von der Universität Bonn heraus: Üblicherweise erfolgt die Diagnostik von Ursache oder Erreger einer Krankheit erst dann, wenn Symptome auftreten. „Die Gendiagnostik dagegen ist die Vorhersage einer Krankheit, noch ehe diese ausbricht.“

Bei Erbleiden, die auf Veränderungen (Mutationen) in einem einzigen Gen beruhen, kann die Mutation eindeutig diagnostiziert werden. Als Beispiel führte Baur die Nervenerkrankung Chorea Huntington an. Bei Menschen, die das defekte Gen geerbt haben, bricht die Krankheit in der Mitte des Lebens aus und führt dann zu einem raschen Tod.

Anders bei komplexen Erkrankungen, bei denen mehrere Gene zusammenwirken oder auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Hier helfen genetische Untersuchungen zunächst nur den Forschern, genetische „Risikofaktoren“ aufgrund der Untersuchung von vielen Menschen zu identifizieren. Erst dann können aus solchen Daten, so Baur, für den Einzelnen Prognosen abgeleitet sowie Präventions- oder Therapie-Empfehlungen ausgesprochen werden.

Selbstbestimmung fördert und bremst Gendiagnostik

„Die Gesellschaft muss das Recht auf Nicht-Wissen schützen“, forderte der Berliner Soziologe Professor Wolfgang van den Daele. Vor allem das Recht auf Selbstbestimmung fördere einerseits, bremse aber andererseits die Gendiagnostik. Wenn Menschen einen Test, beispielsweise auf erbliche Erkrankungen verweigere, dürften ihm daraus keine Nachteile bei Versicherungen oder Arbeitgebern erwachsen. „Dies muss verboten werden.“ Gleichzeitig habe der Einzelne aber auch ein Recht auf Wissen: Der Arbeitgeber solle etwa keine Tests für die Neigung zu Allergien verlangen dürfen, „aber ich selbst könnte meine Berufswahl danach ausrichten“, betonte van den Daele.

Vorsellbar seien auch andere Aspekte einer selbst bestimmten „genetisch geleiteten Lebensplanung“: Es müsse möglich sein, so der Soziologe, „die Veranlagung für eine verhinderbare Krankheit zu diagnostizieren, um entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu treffen – um etwa spätestens bei bei einem hohen genetischen Risiko auf das Rauchen zu verzichten“.

Tests am ungeborenen Kind haben für van den Daele „nichts mit Medizin zu tun, allein mit Selbstbestimmung“. Jede Frau habe heute das Recht, auch einen gesunden Fötus abzutreiben. „Dann zu sagen, einen kranken darfst du nicht abtreiben, das hält man nicht aus“. Heute stelle sich vor allem die Frage „Will ich das wissen?“ Es gebe kein Zurück mehr in den paradiesischen Zustand, dass man etwas gar nicht wissen könne.

Freiwilligkeit ist für Dr. Heidemarie Neitzel, Humangenetikerin aus Berlin, die wichtigste Rahmenbedingung für genetische Tests. Diese sollten nur in Verbindung mit einer genetischen Beratung durchgeführt werden. Heute werde schon bei Neugeborenen eine Vielzahl von Tests auf Stoffwechselstörungen eingesetzt, die aber alle therapierbar seien, so Neitzel. Die Eltern würden in der Regel jedoch erst dann informiert, wenn eine Krankheit festgestellt werde, um gemeinsam eine Therapie zu besprechen. In Zukunft erwartet Neitzel eine „enorme Zunahme der pränatalen und prädiktiven Tests“, ohne dass sich jedoch daraus bei der Mehrzahl der Erkrankungen eine Möglichkeit zur Behandlung ergebe.

Keine Gefahr der Abwertung behinderten Lebens

Vorgeburtliche Tests mit der Möglichkeit, eine Schwangerschaft abzubrechen, sind für van den Daele keine Gefahr, dass behindertes Leben abgewertet werde. „Man muss die demokratischen Institutionen verteidigen“, dann bestehe diese Gefahr nicht. Sorge bereitet ihm allerdings moralischer Druck aus dem unmittelbaren Umfeld einer Frau, die ein behindertes Kind zur Welt bringt. Mit dem Satz „das hätte doch nicht sein müssen“ würde zwar auch in Zukunft keine Krankenkasse reagieren. Doch bei Verwandten, Nachbarn und Freunden sei diese Form der Abwertung durchaus vorstellbar. Da jedoch nur drei bis fünf Prozent aller Behinderungen angeboren seien, besteht für van den Daele kaum Gefahr, dass sich die Einstellung zu Behinderten im Alltag allein aufgrund der neuen Möglichkeiten der Gendiagnostik ändere.

„Man kann nicht davon ausgehen, dass jede zusätzliche diagnostische Möglichkeit auch dazu führt, dass mehr Babys abgetrieben werden“, ergänzte Max Baur. Im Gegenteil: heute entschieden sich mehr Eltern für das Leben eines Kindes mit angeborenen Behinderungen, weil diese mit Hilfe moderner Medizin besser zu handhaben seien als früher.

Vor möglichen unvorhersehbaren Folgen eines Gentests warnte Heidemarie Neitzel: Sei ein Test einmal dokumentiert, könne er nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Versicherungen dürften zwar derzeit keine Tests von ihren Kunden verlangen, aber „wenn ein Test einmal durchgeführt wurde, dann muss er in jedem Fall etwa bei Abschluss einer Lebensversicherung angegeben werden“. Ihr Rat: „Eine Versicherung lieber vor dem Test abschließen.“

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Barbara Ritzert idw

Weitere Informationen:

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