Studie an der Uni Bonn stellt Existenz zirkulierender Stammzellen in Frage

Adulte Stammzellen aus Knochenmark sind die „shooting stars“ ihrer Zunft. Viele Forscher spekulieren, dass die Zellen über das Blut in erkrankte Organe gelangen und dort defektes Gewebe ersetzen können. Auch bei der Behandlung von bestimmten Muskelerkrankungen galten sie als Hoffnungsträger. Eine aktuelle Studie am Universitätsklinikum Bonn bringt nun die Ernüchterung: Die Zellen können zwar in Muskelfasern einwandern, übernehmen aber meist keine gewebsspezifischen Aufgaben. Als Ersatz für defekte Muskelzellen eignen sie sich nach Ansicht der Mediziner daher nicht. Die Studie erscheint am 1. August im Online-Bereich der Fachzeitschrift PNAS (PNAS Early Edition).

Das Knochenmark produziert ständig Stammzellen, aus denen sich beispielsweise die weißen und roten Blutkörperchen bilden. Traum vieler Wissenschaftler ist es, aus den Knochenmarks-Zellen auch andere Gewebetypen zu züchten. In den letzten Jahren ist ein wahrer Hype um die „zellulären Tausendsassa“ entstanden – nicht zuletzt, weil einige Studien berechtigten Anlass zur Hoffnung gaben: So zerstörten Forscher durch Bestrahlung das Knochenmark von Mäusen und ersetzten es durch Zellen, die dank einer gentechnisch hinzugefügten Erbanlage grün fluoreszierten. Im Mäusehirn entdeckten sie wenig später grün fluoreszierende Nervenzellen – augenscheinlich der Beweis, dass sich die im Blut zirkulierenden Stammzellen sogar in Nervengewebe umwandeln können. Damit schien ein völlig neuer Mechanismus entdeckt: Die Reparatur von Gewebe durch Stammzellen aus dem Blutstrom.

Was die Mediziner daran besonders elektrisierte: Der Körper schien über eine „mobile Einsatztruppe“ von Reparaturzellen zu verfügen, die ständig durch den Körper wandern und defektes Gewebe ersetzen können. Selbst Krankheiten wie die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD), die sämtliche Muskeln im Körper zerstört, schienen dadurch therapierbar – und zwar einfach durch die Transplantation gesunden Knochenmarks. DMD ist bei Jungen die zweithäufigste Erbkrankheit. Ihre Muskeln produzieren aufgrund eines Gendefekts kein funktionsfähiges Dystrophin, ein wichtiges Muskelprotein. Die Betroffenen entwickeln eine fortschreitende Muskelschwäche; ihre Lebenserwartung liegt nur bei 15 bis 20 Jahren.

„Wir haben bei Mäusen mit DMD das Knochenmark durch gesundes Mark ersetzt, das mit einem Fluoreszenzgen markiert war“, erläutert der Bonner Physiologe Professor Dr. Anton Wernig. Die Hoffnung der Mediziner: Mit dem Blut sollten die transplantierten Stammzellen in die defekten Muskelfasern gelangen und dort funktionsfähiges Dystrophin produzieren.Tatsächlich konnten die Forscher einige Monate nach der Knochenmarks-Transplantation grün fluoreszierende Stammzellkerne im Muskelgewebe nachweisen – „und zwar in einer Anzahl, dass sich der Zustand der Muskulatur hätte deutlich bessern müssen“, betont Wernig. Sie untersuchten daraufhin, ob die Stammzellkerne auch Muskelproteine herstellten – mit negativem Ergebnis: „Wenn überhaupt, produzierten nur wenige der Kerne Dystrophin – jedenfalls viel zu wenige, um eine Besserung des Krankheitszustands zu bewirken“, stellt der Physiologe fest. „Wir vermuten, dass die Zellen zwar mit den defekten Muskelfasern verschmelzen, dort aber stumm bleiben und nicht wie erhofft das ’Muskelprogramm’ anwerfen.“ Anders ausgedrückt: Die Knochenmarkszellen verwandeln sich nicht in funktionsfähiges Muskelgewebe.

Die Mär vom zirkulierenden Alleskönner

Grund ist wahrscheinlich, dass in den allermeisten vom Knochenmark ins Blut abgegebenen Zellen viele Gene dauerhaft „abgeschaltet“ sind und die Zelle sie nicht mir nichts, dir nichts wieder „anknipsen“ kann: Aus Knochenmark entsteht halt in der Regel Blut und kein Muskelgewebe. Die Geschichte von den Alleskönnern, die mit im Blutstrom durch den Körper zirkulieren und bei Bedarf alle möglichen Gewebetypen reparieren, ist nur eine Mär – in der Praxis bleibt ihre Wirkung zumindest gering.

Die Körperzellen markieren Erbanlagen, die sie nicht mehr zu benötigen glauben, indem sie ihnen ein Etikett anheften – eine Art molekulares „Nicht benutzen!“-Schild. „Wir haben auch versucht, dieses Etikett auf chemischem Wege zu entfernen und die Kerne der Knochenmarkszellen so dazu zu bringen, wieder Muskelproteine herzustellen“, sagt Wernig. „Dadurch konnten wir zwar die Dystrophin-Produktion im Muskel ankurbeln; der Effekt war aber bei weitem zu gering, um die Krankheit zu bekämpfen. Wir wollen weiter daran arbeiten und versuchen, die ’schlummernden’ Kerne zu wecken.“

Der Bonner Physiologe glaubt, auch die hochgesteckten Erwartungen seiner Kollegen dämpfen zu müssen: „Meiner Meinung nach wurden viele Studien mit Knochenmarks-Stammzellen bislang zu optimistisch interpretiert.“ So auch die eingangs erwähnten Experimente mit den grün fluoreszierenden Nervenzellen: „Wahrscheinlich sind Knochenmarkszellen aus dem Blut ins Gehirn gewandert, haben sich dort aber nicht in Nervenzellen umgewandelt, sondern sind mit bereits vorhandenen Neuronen verschmolzen.“ Die vermeintlichen Stammzellen hätten dann lediglich ein paar Hirnzellen grün angefärbt.

Kontakt:
Professor Dr. Anton Wernig
Institut für Physiologie der Universität Bonn
Telefon: 0228/287-2274
E-Mail: anton.wernig@ukb.uni-bonn.de

Media Contact

Frank Luerweg idw

Weitere Informationen:

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