Gehirn recycelt Nervenwachstumsfaktoren

RUB-Biologen belegen Import aus anderen Hirnregionen /// Möglicher Schutzmechanismus vor epileptischen Anfällen

Nervenzellen können Nervenwachstumsfaktoren, die Neurotrophine, entlang von Nervenfasern (Axone) transportieren. So können Projektionsneuronen der Großhirnrinde über ihr Axon Neurotrophine aus entfernt liegenden Hirngebieten aufnehmen und importieren. Bisher war unklar, was mit den Neurotrophinen anschließend passiert. Allgemein wurde vermutet, dass die Neurotrophine nach dem Transport ihre Funktion erfüllt haben und als Proteinmüll entsorgt werden. Die RUB-Biologen Dr. Marcus Wirth, Dr. Silke Patz und Prof. Dr. Petra Wahle konnten nun zeigen, dass die transportierten Neurotrophine „recycelt“ und lokal an nachgeschaltete Neuronen weitergegeben werden. Dort entfalten sie dann eine biologische Wirkung und regen die Expression des anti-epileptischen Botenstoffes Neuropeptid Y an. Die Ergebnisse dieser Studie sind am 22. Februar 2005 im Journal Proceedings of the National Academy of Science USA erschienen.

Alte Annahme: Wachstumsfaktor kommt aus der Nachbarschaft

„Brain-derived neurotrophic factor“ (BDNF) und das Neurotrophin-4 (NT-4) sind Nervenwachstumsfaktoren (Neurotrophine). Sie fördern im Gehirn das Überleben der Nervenzellen, die Differenzierung in unterschiedliche Nervenzelltypen, und regulieren die Expression von Genen und Proteinen. BDNF und NT-4 fördern so die Produktion bestimmter Botenstoffe, z.B. von Neuropeptid Y (NPY). In der Großhirnrinde wird NPY bedarfsabhängig von den hemmend wirkenden sog. Interneuronen produziert, und es hat eine starke anti-epileptische Wirkung. Bisher wurde vermutet, dass Interneurone, die NPY produzieren können, das BDNF-Signal von den erregend wirkenden Projektionsneuronen aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft erhalten. Die Rolle von NT-4 ist weniger gut untersucht.

Grünes Leuchten zeigt den Weg an

Für ihre Studie nutzten die Forscher Kulturen von Gehirnschnitten der Großhirnrinde (Neocortex) und dem Mittelhirn (Colliculus superior) neugeborener Ratten als Modellsystem. Mit Hilfe einer Genkanone wurden die Gene für BDNF bzw. NT4 sowie das Gen für „grün fluoreszierendes Protein“ in Zellen der Mittelhirn-Kultur eingeschleust. „Die Zellen beginnen dann mit einer verstärkten Produktion des Neurotrophins und setzen die Faktoren frei, so dass es von den Axonen der Projektionsneuronen der cortikalen Gehirnschnittkultur aufgenommen werden kann“, erläutert Prof. Wahle. Die Projektionsneurone sind Pyramidalzellen der fünften cortikalen Schicht. Genau wie im Gehirn bilden diese Pyramidalzellen in der Kultur die einzige axonale Verbindung zwischen den beiden gemeinsam kultivierten Gehirnschnitten. Die Extraportion der Neurotrophine wurde dann offenbar in die Zellkörper der Pyramidalzellen der Großhirnrinde importiert. Die Pyramidalzellen wiederum sind in reziproker Weise mit cortikalen Interneuronen verknüpft. Die Biologen konnten zeigen, dass die Interneurone auf die Extraportion der importierten Neurotrophine reagieren, indem sie die Synthese des Neuropeptids NPY aktivieren. „Ob die Interneurone die Neurotrophine über ihre eigenen Axonendigungen aufnehmen oder über die Axonendigungen der Pyramidalzelle angeliefert bekommen, muss noch geklärt werden“, so Prof. Wahle.

Wie das Gehirn bei einem Anfall Schlimmeres verhindert

Die Forscher haben so erstmals nachgewiesen, dass Nervenzellen Wachstumsfaktoren aus weit entfernt liegenden Zielgebieten importieren und durch transzelluläre Mechanismen lokal an nachgeschaltete Neuronen weitergeben können. Die Studie wirft ein neues Licht auf die Frage, wie sich epileptische Anfälle auf Gehirnregionen auswirken, die selbst noch nicht betroffen sind, die jedoch axonale Verbindungen zum betroffenen Gebiet besitzen. Pathologische Aktivität steigert dort die Produktion von BDNF. Axone aus gesunden Hirngebieten können das BDNF importieren und an ihre lokalen Interneuronen weitergeben. Durch die BDNF-vermittelte Förderung der NPY Produktion könnte in noch gesunden Regionen prophylaktisch ein erregungsdämpfender neuroprotektiver Mechanismus aktiviert werden, der die Ausbreitung der pathologischen Erregung verhindert.

Titelaufnahme

Wirth MJ, Patz S and Wahle P (2005) Transcellular induction of NPY by BDNF and NT4. Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Vol. 102(8):3064-3069.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Petra Wahle, AG Entwicklungsneurobiologie, Fakultät für Biologie, Ruhr-Universität, 44780 Bochum, Tel. 0234/32-24367, wahle@neurobiologie.rub.de

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Dr. Josef König idw

Weitere Informationen:

http://www.ruhr-uni-bochum.de/

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