Jülicher Supercomputer liefern neue Erkenntnisse für die Evolutionsbiologie

Kein Zweifel: Menschen sind komplizierter gebaut als Seeanemonen. Dennoch findet sich bereits bei den eher einfach strukturierten Nesseltieren ein ganzes Dutzend Kopien von Genen der so genannten Wnt-Genfamilie, die gemeinsam mit anderen Genen für die Organisation des Bauplans zuständig sind. Dies sind ebenso viele wie beim Menschen und viel mehr, als Biologen bisher bei so ursprünglichen Tieren vermuteten. Die unverhoffte Erbgut-Vielfalt der Seeanemonen entdeckten Wissenschaftler des John von Neumann-Instituts des Forschungszentrums Jülich in Zusammenarbeit mit einem international zusammengesetzten Forscherteam. Eine wichtige Rolle bei der Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse spielten dabei die Anwendung bioinformatischer Verfahren und der Einsatz der Jülicher Großrechner. Die Ergebnisse wurden jetzt von der renommierten Fachzeitschrift Nature (Bd. 433, S. 156) veröffentlicht.

Wenn sich ein Embryo oder eine Larve entwickelt, entsteht aus der befruchteten Eizelle eine Vielzahl unterschiedlicher Zellen und Gewebe. Damit Darm-, Haut- oder Nervenzellen ihren richtigen Bestimmungsort im heranreifenden Organismus finden, sind Entwicklungsfaktoren nötig, die gleichsam als Platzanweiser fungieren. Zu diesen Faktoren gehören Eiweiße, deren Bauanleitung in den so genannten Wnt-Genen fixiert ist.

In Fadenwürmern und Fruchtfliegen den genetisch besonders gut untersuchten Modellorganismen aus der Gruppe der Häutungstiere (Ecdysozoa) waren in der Vergangenheit nur wenige Vertreter dieser Genfamilie entdeckt worden: Die Fliegen zum Beispiel besitzen sechs der zwölf Wnt-Gene, die aus Wirbeltieren, einschließlich des Menschen, bekannt sind. Wissenschaftler hatten daher angenommen, dass die Vielfalt der Wnt-Gene sich erst allmählich in der Evolution herausgebildet hat: In dem Maße, wie die Baupläne der Organismen komplizierter wurden, nahm die Zahl der benötigten Platzanweiser zu, so die bisher gängige Erklärung.

Das klingt zwar plausibel, ist aber nicht korrekt, stellte ein Team aus Biologen und Informatikern nun fest. Die Forscher fahndeten bei der vergleichsweise einfach gebauten Seeanemone Nematostella vectensis, einem Mitglied der bereits früh in der Evolution der Vielzeller entstandenen Nesseltiere (Cnidaria) nach Wnt-Genen. Dabei entdeckten sie überraschenderweise ebenfalls zwölf unterschiedliche Genkopien. Heiko Schmidt und Arndt von Haeseler untersuchten am Forschungszentrum Jülich die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Gene und stellten fest: Die in den Nesseltieren gefundenen Wnt-Gene sind alle eng verwandt mit den entsprechenden Genen des Menschen. „Offenbar sind diese Gene also sehr alt. Die von ihnen codierten Signalmoleküle spielten vermutlich schon beim Übergang von einzelligen zu den ersten vielzelligen Organismen eine wichtige Rolle“, erläutert der Bioinformatiker Heiko Schmidt vom John von Neumann-Institut. Denn zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte des Lebens trat das Problem, unterschiedliche Zellen zu ihrem richtigen Platz zu dirigieren, erstmals auf. Bei Einzellern oder Organismen, die nur eine Kolonie mehr oder weniger gleichartiger Zellen bilden, ließen sich dagegen bisher keine Wnt-Gene nachweisen.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Wnt-Gene schon vollständig vorhanden gewesen sein müssen, bevor die so genannten Ecdysozoa vom Stammbaum der Tiere abzweigten“, erklärt Arndt von Haeseler, der sowohl am Jülicher von Neumann-Institut als auch an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forscht. Später im Laufe der Evolution wurden bei den Insekten und anderen Tieren, die sich während des Wachstums mehrfach häuten, offenbar einige Wnt-Gene wieder entbehrlich. Die einfache Formel: Je komplexer der Organismus, desto mehr Wnt-Gene sind erforderlich, um während der Embryonalentwicklung für Ordnung zu sorgen, scheint damit überholt.

Möglich wurde diese Erkenntnis erst dadurch, dass die Forscher das Erbgut vieler verschiedener Organismen miteinander verglichen. Nur mit Hilfe von Supercomputern, wie sie am Forschungszentrum Jülich zur Verfügung stehen, konnten die Wissenschaftler diese Datenflut bewältigen. „Stammbaumanalysen dieser Größenordnung benötigen effiziente bioinformatische Methoden und leistungsstarke Großrechner“, betont Arndt von Haeseler. Modernste Supercomputer helfen so zu verstehen, wie sich vor Jahrmillionen die Vielfalt der heutigen Organismen herauszubilden begann.

Media Contact

Annette Stettien Forschungszentrum Jülich

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