Fliegen erweitern ihren Horizont

Abb.: Blick in das Gehirn der Schmeißfliege. Einzelne Nervenzellen (VS-Zellen) der Lobulaplatte sind durch fluoreszierende Farbstoffe (rot, grün) sichtbar gemacht. <br>Bild: Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Fliegen sind erst dank der direkten Verschaltung ihrer Nervenzellen in der Lage, extrem geschickt zu navigieren, berichten Max-Planck-Neurobiologen

Die eigene Fortbewegung steuern und den Kurs bei auftauchenden Hindernissen sofort korrigieren zu können, erfordern eine komplexe Verrechnung jener Reize, die das Gehirn über die Augen erhält. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried haben jetzt entdeckt, wie raffiniert einzelne Nervenzellen im Sehzentrum von Fliegen miteinander verschaltet sind und wie diese Zellen bei der Bewegungswahrnehmung miteinander kommunizieren. Die Forscher können damit erstmals erklären, auf welche Weise das winzige Gehirn einer Fliege in der Lage ist, extrem komplexe Leistungen beim Bewegungssehen zu erbringen. Diese Ergebnisse werden in der neuesten Ausgabe von Nature Neuroscience veröffentlicht (Nature Neuroscience, Advanced Online publication, 9. Mai 2004).

Ohne die Fähigkeit des Gehirns, die Bewegungen der einzelnen Objekte in unserer Umgebung unterscheiden und mit unseren eigenen Bewegungen koordinieren zu können, wären wir schlichtweg unfähig, uns im Raum zu orientieren, uns fortzubewegen, Wege einzuprägen oder auf zu nahe kommende Objekte zu reagieren. Unsere Augen liefern uns ständig neue Bilder auf der Netzhaut, die sich zudem bei Bewegung rasch verändern. Die Reize aus der Netzhaut werden in verschiedenen Sehzentren des Gehirns verarbeitet. Eine großartige Leistung unseres Gehirns, die es uns ermöglicht, die Bilder unserer sich bewegenden Umwelt zu analysieren und mit bereits bekannten Strukturen zu vergleichen. Auf diese Weise können wir zum Beispiel beim Autofahren die an uns vorbeiziehenden Bäume und Häuser als feststehende unbewegliche Objekte erkennen, obwohl sie auf unserer Netzhaut in Bewegung sind. Wissenschaftler sprechen vom „optischen Fluss“. Bei der Analyse von Bewegungen, etwa zur Steuerung von Robotern, werden die Bilder des optischen Flusses in einzelne Vektoren aufgegliedert, die an jeder Stelle im Bild die Schnelligkeit und die Richtung der Bewegung darstellen.

Wissenschaftler untersuchen an Menschen, Wirbeltieren und Insekten, wie diese Bewegungen in ihrer Umwelt wahrnehmen und ihre eigenen Bewegungen kontrollieren. Heute weiß man bereits, welche Gehirnregionen an der Verarbeitung von Seh-Reizen und an der Steuerung von Bewegungen beteiligt und in welcher Reihenfolge sie aktiv sind, wenn Reize von der Netzhaut der Augen im Gehirn eintreffen. So werden Reize, die aus verschiedenen Richtungen kommen und auf verschiedene Stellen der Netzhaut treffen, auch von unterschiedlichen Regionen in den Sehzentren verarbeitet. Es sind also nur bestimmte Nervenzellen im Gehirn aktiv, wenn Reize aus einer bestimmten Richtung auf der Netzhaut abgebildet werden. Man spricht von retinotoper Repräsentation (retina = Netzhaut).

Deshalb nimmt man heute an, dass sich die Nervenzellen der Sehzentren untereinander die Arbeit aufteilen: Für die Verrechnung der von vorn kommenden Eindrücke etwa sind nur ganz bestimmte Nervenzellen in einer bestimmten Region zuständig. Doch wie die einzelnen Nervenzellen dieser Region miteinander und mit benachbarten Nervenzellen in Kontakt stehen und wie sie untereinander die Reize verrechnen, ist nicht bekannt. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München studieren diese Verschaltungen am Modell der Schmeißfliege, Calliphora vicina. Sie hoffen damit auch das Wissen zu verbessern, wie Nervenzellen in unserem Gehirn bei der Bewegungswahrnehmung und der Steuerung unserer eigenen Bewegung miteinander kommunizieren.

Fliegen sind Weltmeister im Bewegungssehen: Leicht weichen Sie unseren Abwehrschlägen aus und korrigieren ihre Flugbahn sofort, wenn plötzlich Hindernisse auftreten. Doch im Gegensatz zum menschlichen Gehirn ist das Sehsystem der Fliege relativ einfach aufgebaut. Die Bewegungsinformationen werden in der so genannten Lobulaplatte des Fliegenhirns verarbeitet. Diese gliedert sich in vier Ebenen, die jeweils die Bewegungsinformationen aus einer der vier Haupt-Bewegungsrichtungen (von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, von unten nach oben, von oben nach unten) verarbeiten. In jeder Hirnhälfte der Fliege verrechen nur 60 Nervenzellen die Bewegungsreize und geben die entsprechenden Signale an die Zentren weiter, die dann den Flügelschlag kontrollieren.

Jürgen Haag und Alexander Borst haben jetzt die Verarbeitung in so genannten VS-Zellen, die für vertikale Bewegungsreize zuständig sind, detailliert untersucht. Aus früheren Studien war bereits bekannt, dass jede dieser Nervenzellen Präferenzen für bestimmte Bewegungsrichtungen hat. Die Max-Planck-Wissenschaftler konnten jetzt erklären, wie diese Präferenzen aufgebaut werden und zustande kommen.

Um aufzuklären, wie die Nervenzellen verschaltet sind, machten die Martinsrieder Neurobiologen so genannte Doppelableitungen: Sie registrierten die elektrischen Signale in zwei Neuronen gleichzeitig. Durch Injektion mit zwei unterschiedlich fluoreszierenden Farbstoffen, der eine grün, der andere rot, konnten sie die Zellen eindeutig identifizieren und voneinander unterscheiden. Zu ihrem Erstaunen stellten Haag und Borst fest, dass alle Zellen miteinander in Kontakt standen. Bei einer Aktivierung der Zelle VS1 etwa, die im vorderen Bereich der Lobulaplatte auf frontale Bewegungsmuster reagiert, stellten die Wissenschaftler auch eine Aktivität in der weiter entfernten Zelle VS 10 fest, die eigentlich für Bewegungen aus der seitlichen Richtung empfänglich ist.

Nachdem die Wissenschaftler an allen zehn verschiedenen VS-Zellen, die in jeder Hälfte des Fliegenhirns existieren, Messungen durchgeführt hatten, ergab sich das erstaunliche Resultat, dass alle zehn VS-Zellen wie in einer Reihenschaltung miteinander in Kontakt stehen: Ein Reiz aus VS1 wird an VS2 weitergeleitet, diese Zelle wiederum reicht das Signal an VS3 weiter u.s.w. An den am weitesten entfernt von VS1 liegenden Zellen VS9 und VS 10 jedoch hatte das ankommende Signal sogar hemmenden Effekt. Jürgen Haag, Wissenschaftler in der von Alexander Borst geleiteten Abteilung Neuronale Informationsverarbeitung, kommentiert die Messergebnisse: „Weil alle VS-Zellen in Serie miteinander in Kontakt stehen, wird das rezeptive Feld jeder einzelnen Zelle stark vergrößert. Durch diese Art der Verschaltung muss nicht jede einzelne Zelle kompliziert verdrahtet werden, sondern es genügen einfache Regeln, um die rezeptiven Felder der VS-Zellen zu erzeugen.“ Die Fliege erweitert dadurch also ihren Horizont. „Eigentlich eine recht ökonomische Art, alle vorhandenen Zellen einzubeziehen, die dann durch die unterschiedliche Stärke ihrer Aktivierung die Weitermeldung der genauen Position der Fliege ermöglichen.“

Nachdem Haag und Borst diese Kommunikationsformen der Nervenzellen studiert hatten, wollten sie durch mikroskopische Analyse kontrollieren, wo genau die Zellen miteinander in Kontakt stehen. Sie entdeckten, dass die Zellen im vertikalen System – ganz im Gegensatz zum horizontalen System – nicht an den Dendriten, also den feinen Verzweigungen in ihrer Peripherie, miteinander kommunizieren, sondern Kontaktstellen (Synapsen) an ihrem Hauptstamm, dem Axon, bilden. (vgl. Pressemitteilung der MPG vom 17.09.2003, [1]). Auch hier hat die Natur eine sehr geschickte Lösung entwickelt: Werden nämlich gleich die Hauptleitungen zwischen den Nervenzellen miteinander verknüpft, so geht die Weiterleitung wesentlich schneller, als wenn man die Signale erst aus den feinen Verästelungen auffangen muss. Doch damit die Weiterleitung auch wirklich schnell vonstatten gehen kann, stehen die VS-Zellen über elektrische Synapsen miteinander in Kontakt, wie Haag und Borst jetzt herausgefunden haben. Wie bei der Kopplung elektrischer Kabel wird die elektrische Spannung also von einem Kabel direkt auf das andere übertragen. Ganz im Gegensatz zu den chemischen Synapsen, bei denen Substanzen – Neurotransmitter – die Reizweiterleitung zwischen Nervenzellen ermöglichen, können elektrische Synapsen in beide Richtungen gleichermaßen Reize weiterleiten, und das ohne die Verzögerung, die eine Neurotransmitter-Freisetzung verursacht.

Alexander Borst ist von den neuen Einblicken in die Verschaltung der Nervenzellen im Vertikalen System des Fliegenhirns begeistert: „Jetzt wissen wir viel genauer, warum die Fliegen beim Bewegungssehen so erfolgreich sind. Die von uns entdeckten Verschaltungen der Zellen könnten möglicherweise auch Hinweise darauf geben, wie der Schaltplan in den Sehzentren von anderen Tieren funktionieren.“ Denn es ist durchaus möglich, dass sich diese Schaltkreise – wie andere erfolgreiche Strukturen in der Natur (z.B. Steuerung von Zellabläufen) – über die Grenzen der Arten erhalten haben und auch bei den Wirbeltieren eine ähnliche komplexe Verschaltung vorkommt. Auf jeden Fall: Die Fliege hat mit ihrer effektiven Bewegungswahrnehmung nun auch den Horizont der Neurobiologen erweitert.

Originalveröffentlichung:

Jürgen Haag and Alexander Borst
Neural mechanism underlying complex receptive field properties of motion-sensitive interneurons
Nature Neuroscience, June 2004, Advanced Online publication, 9 May 2004, doi:10.1038/nn1245

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Eva-Maria Diehl (Öffentlichkeitsarbeit)
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Tel.: 089 8578-2824
Fax: 089 8578-2943
E-Mail: diehl@neuro.mpg.de

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