Chemische Evolution: Die Wurzeln der Biologie finden

Es ist kein reiner Zufall, dass das Jahr der Chemie 2003 mit dem 50. Geburtstag zweier Entdeckungen zusammenfällt, die einen entscheidenden Impuls für unser Verständnis des Lebens und seines Ursprungs geliefert haben. Welch rasante Entwicklung die Forschung auf diesen Gebieten gemacht hat, zeigt die Fachgruppe Biochemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) auf ihrer Jahrestagung im Rahmen der GDCh-Jahrestagung Chemie 2003 im Oktober in München auf.

1953 erkannten Watson und Crick die Doppelhelix-Struktur des Erbmoleküls DNA. Die Struktur des DNA-Moleküls lieferte den Schlüssel für ein Verständnis der Replikation, dem molekularen Mechanismus der Vererbung. Im gleichen Jahr erschien die Arbeit eines zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten jungen Studenten, der im Labor von Harold C. Urey (Chemie-Nobelpreis 1934) an der University of Chicago arbeitete. Stanley Miller hatte nachgewiesen, dass Aminosäuren entstehen, wenn man in einer Umlaufapparatur die Komponenten der damals vermuteten reduzierenden Uratmosphäre unseres Planeten, Methan, Wasserstoff, Ammoniak und Wasserdampf einer elektrischen Funkenentladung aussetzt. Millers Apparat wurde zur Ikone der chemischen Evolution, einer Forschungsrichtung, die sich bemüht, die Entstehung des Lebens schrittweise im Labor nachzuvollziehen.

Leben ist komplexe molekulare Informationsverarbeitung, die sich im Nanometerraum abspielt. Information ist im Erbmolekül DNA gespeichert, die mit Hilfe von RNA-Molekülen verarbeitet und in Proteine übersetzt wird. Proteine erfüllen in der Zelle ihre vorprogrammierte Funktion, z.B. als Gerüstmoleküle oder als enzymatische Katalysatoren im Stoffwechsel der Zelle. Sie „sprechen“ in mannigfaltiger Weise mit dem Erbmolekül DNA, ermöglichen dessen Replikation und konstituieren so ein selbstorganisierendes informationsverarbeitendes Netzwerk, das auf Arbeitsteilung angelegt ist. Diese Arbeitsteilung zwischen DNA als genetischer Informationsträger, RNA als Übersetzer und Proteinen als Funktionsträger erfordert die Existenz eines hochkomplexen Übersetzungsapparats, der schrittweise entstanden sein muss.

Am Anfang des Lebens standen vermutlich RNA- oder RNA-artige Moleküle, die alle lebensnotwendigen Funktionen inklusive die ihrer eigenen Selbstreplikation erfüllt haben mussten. Das jedenfalls impliziert die Hypothese einer „RNA-Welt“, die unserer heutigen „DNA-RNA-Protein-Welt“ vor mehr als 3.5 Milliarden Jahren vorausgegangen sein soll. Für die RNA-Welt spricht die mit dem Nobelpreis für Chemie gewürdigte Entdeckung von Ribozymen, d.h. Ribonucleinsäuren (RNA) als Enzymen, sowie der Befund, dass kurze Stücke von Nucleinsäuren zur enzymfreien Selbstreplikation befähigt sind. Beide Entdeckungen haben zu wichtigen Entwicklungen in der Chemie geführt: Katalytisch aktive RNA-Moleküle sowie RNA-Moleküle mit gewünschten Eigenschaften können heute ebenso wie Proteine durch evolutive Biotechnologie im Reagenzglas maßgeschneidert werden. Die Aufklärung der enzymfreien Selbstreplikation hat dafür gesorgt, dass Chemiker das Prinzip Selbstreplikation inzwischen in „fremde“ Strukturklassen, etwa Peptiden und sogar abiogenen Molekülen, übertragen haben. Auch die Nutzung von Biomolekülen für eine programmierbare Nanotechnologie gehört zu den Arbeitsfeldern, die inzwischen im Kontext chemischer Forschung stehen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Chemie vor einer gewaltigen Herausforderung. Der Biologie ist es nämlich per se alleine nicht möglich, aus der Kenntnis der heutigen Lebensformen Aussagen über die Entstehung des Lebens aus chemischen Vorläufersystemen abzuleiten. Ähnlich wie die Quantenmechanik im letzten Jahrhundert dazu beigetragen hat, dass man chemische Strukturen und chemische Reaktionen heute viel besser versteht, kommt der Chemie heute die Aufgabe zu, die Wurzeln der Biologie zu finden. Das, was alle biologische Systeme von den heute bekannten chemischen Systemen unterscheidet, ist Evolvierbarkeit im Darwinschen Sinne. Die Frage heißt also: Wie schafft es ein aus molekularen Bausteinen bestehendes chemisches System, dem genügend freie Energie zur Verfügung steht, ein Netzwerk von Reaktionen zu entwickeln, das hinsichtlich der Struktur seiner Reaktionsprodukte, der Dynamik ihrer Wechselwirkungen „lernfähig“ ist, komplexes emergentes Verhalten hervorbringt und sich immer besser auf äußere Änderungen („Umweltbedingungen“) anzupassen vermag.

Die meisten hier tätigen Chemiker gehen heute davon aus, dass Reaktionsprodukte eines solchen Systems ähnlich wie die DNA und RNA Templateigenschaften besitzen und zudem strukturell Information speichern müssen. Informationsspeicherung ist am einfachsten dadurch realisierbar, dass Information in der Anordnung der Bausteine, also als Sequenz kodiert ist. Je länger die Reaktionsprodukte werden, desto mehr Information kann gespeichert werden. Information kann u.a. dadurch erzeugt werden, dass aus kleinen Bausteinen große Moleküle gebildet werden. Sie wird in einem Darwinschen Prozess stets funktionell bewertet. Jede Sequenz kann sich in programmierter Weise falten und definiert hierüber den chemisch funktionellen Kontext des Moleküls. Dieser Kontext ist in der Aufgabe zu sehen, die das Molekül im Netzwerk erfüllt. Chemisch gesehen sind es Aufgaben wie Bindung, Katalyse, Transport und Kompartimentierung. Eine wichtige Aufgabe besteht in der Selbstreplikation: Das Netzwerk muss Reaktionsprodukte enthalten, die in der Lage sind, ihre eigene Sequenz und die weiterer Reaktionsprodukte zu kopieren, wozu die Reaktionsprodukte selbst Templateigenschaften besitzen müssen. Die Erforschung von „minimalem Leben“ und die Erzeugung von „Protozellen“ definiert ein neues Arbeitsgebiet, das inzwischen als „synthetische Biologie“ bezeichnet wird und in dem Chemie und Biologie aufeinander zugehen. Dem biologischen „top-down“-Ansatz (Welche Funktionen lassen sich aus einer Zelle entfernen, ohne dass die Lebensfähigkeit zerstört wird) steht der „bottom-up“-Ansatz der Chemie gegenüber (Welche Funktionen müssen synthetisch erzeugt werden, um Lebensfähigkeit in der denkbar primitivsten Form zu entwickeln). Mit der im November 2002 erfolgten Ankündigung des Nobelpreisträgers Craig Venter, er werde das im Humangenomprojekt gespeicherte Wissen für die Konstruktion minimaler Zellen einsetzen, wurde das Startsignal für diese Entwicklung gesetzt.

Die Chemie ist dabei auf dem „bottom-up“-Weg nicht notwendigerweise gezwungen, von den natürlichen Biomolekülen auszugehen. Sie kann zur synthetischen Biologie auch durch Bereitstellung struktureller Alternativen von Biomolekülen beitragen. Für die Erzeugung „alternativer Biomoleküle“ steht heute ein immenses und leistungsstarkes Methodenarsenal der organischen Synthesechemie zur Verfügung, das ergänzt wird durch das Methodenarsenal der Molekularbiologie und der evolutiven Biotechnologie. In kombinierter Anwendung dieser Methoden entstehen artifizielle Proteine, Nucleinsäuremimetika, die die Natur nicht kennt und sogar Bausteine, die im Kontext einer programmierbaren Nanotechnologie den Entwurf und die Erzeugung hochkomplexer Nanokonstrukte für vielfältige Anwendungen gestatten. Selbst die Replikation solcher Nanokonstrukte scheint nicht mehr im Bereich des Science Fiction zu liegen. Wer heute noch glaubt, die Chemie sei ein „reifes“ Fach, in dem keine neuen Herausforderungen mehr liegen können, der hat sich gewaltig getäuscht. In der neuen Chemie fließen Biologie, Informatik, die Physik komplexer Systeme und die Nanowissenschaften zusammen. Das ehemalige „Kernfach“ Chemie hat sich längst zu einem Interface der Naturwissenschaften, der Medizin, und selbst der Kognitionswissenschaften gemausert. Chemische Evolution bedeutet eben auch Evolution der Chemie.

Media Contact

Dr. Renate Hoer idw

Weitere Informationen:

http://www.gdch.de

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