Knochen, die wertvoller sind als Mondgestein

Ur- und Frühgeschichte: 1856 wurden in der Nähe von Düsseldorf Überreste eines Neandertalers entdeckt. Dem Ur- und Frühgeschichtler Dr. Ralf W. Schmitz gelang es mit einem Kollegen, weitere Teile dieses Skelettes und eines weiteren Neandertalers auszugraben. Die Forschungen wurden auf genetische und anthropologische Untersuchungen ausgedehnt. Auch daher weiß man heute, dass die Neandertaler nicht viele Gene zum heutigen Menschen beigetragen haben.

Die zweite Entdeckung des ersten Neandertalers bringt die Menschheitsgeschichte voran

Am Anfang der Forschungen stand eine verrückte Idee: Ralf Schmitz und Jürgen Thissen waren fasziniert von dem Gedanken, dass weitere Knochenteile des ersten, 1856 entdeckten Neandertalerskelettes aus dem Tal der Düssel in der Nähe von Düsseldorf noch heute dort liegen könnten. Das damals von Arbeitern gefundene Skelett war nicht vollständig und Spuren an den Knochen zeigten, dass die Arbeiter sie teilweise mit ihren Werkzeugen gebrochen hatten. Schließlich hielten sie die Knochen auch für Überreste eines Höhlenbären. Das Tal der Düssel war durch den Abbau des dort vorkommenden Kalksteins von der Mitte des 19. Jahrhunderts an ein öder Steinbruch geworden, doch das Lehmmaterial aus der kleinen Höhle, in der die Neandertalerknochen entdeckt wurden, hätte noch darunter sein können. Allerdings hatte eine Forschergruppe der Universität Köln bereits 1985 die Suche nach den Überresten des Neandertalers aufgegeben. In zähen Verhandlungen erwirkten Schmitz und Thissen 1997 eine Grabungsgenehmigung und stießen tatsächlich am letzten Tag der zweiwöchigen Probegrabungen des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege in Bonn auf das gelbe Lehmmaterial mit Knochenstücken von Neandertalern. Die Forschungen an den Funden wurden zu einem großen Neandertaler-Projekt ausgeweitet, in dem heute neben Dr. Ralf W. Schmitz, Susanne Feine und Felix Hillgruber am Lehrstuhl von Prof. Nicholas Conard vom Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen auch Genetiker, Anthropologen und andere Forscher zusammenarbeiten.

Die Fundstelle des Neandertalers war längst in Vergessenheit geraten. Bei der Suche hatten sich die beiden Forscher Schmitz und Thissen im Gegensatz zu den Kölner Wissenschaftlern genau an die Originalbeschreibungen des Lehrers Johann Carl Fuhlrott gehalten, der die Knochen 1856 als Erster untersucht hatte. Dabei erkannte er – drei Jahre vor der bahnbrechenden Veröffentlichung von Charles Darwins’ Evolutionstheorie in dem Werk „Zur Entstehung der Arten“ 1859 -, dass es sich bei dem Skelett um einen Urmenschen handelte. Die Statur war klein und gedrungen, über den Augen verliefen kräftige Bögen, die so genannten Überaugenwülste. „Aus Unterlagen und Briefen Fuhlrotts war bekannt, dass er ein Pedant war. Nach mehrjährigen Recherchen und seinen Beschreibungen konnten wir einige der neun früheren Höhlen im Tal der Düssel zueinander ins ursprüngliche Verhältnis bringen“, erzählt Schmitz. Als viel versprechenden Grabungsort machten sie eine Stelle am südlichen Ufer aus, auf der inzwischen ein Autoschrottplatz angesiedelt war. Dort fanden sie Steingeräte, Tierknochen und Splitter von Menschenknochen. 1999 war unter den Fundstücken dann tatsächlich der Beweis, dass sie Teile von demselben Neandertalerskelett gefunden hatten, das erstmals 1856 entdeckt wurde: Ein Gelenkstück aus den neuen Grabungen passte perfekt an den 143 Jahre zuvor geborgenen Oberschenkelknochen. Bereits 1997 hatten die Forscher Überreste eines zweiten Neandertalers gefunden. „Vielleicht handelt es sich um eine Frau, denn dieser Mensch ist kleiner und schlanker gewesen“, sagt Schmitz.

Im Jahr 2000 wurden die Grabungen fortgesetzt. Das Erdreich bei den Ausgrabungen haben die Forscher in Säcke gefüllt und später mit feinen Sieben auf kleinere Fundstücke durchgeschlämmt. „Wir haben rund 100 000 Stücke, Steingeräte, Knochen, Kleinsäugerknochen und Keramik des 19. Jahrhunderts, gefunden“, berichtet Schmitz. 62 Funde wurden sicher als menschliche Knochenfragmente identifiziert. Dabei hat der Neandertalerspezialist Fred H. Smith, Anthropologe in Chicago, entscheidend mitgearbeitet. Es fanden sich zwei weitere Teile vom Schädel des ersten Neandertalers. Die Knochen waren gut erhalten, da sie in der Höhle über 40 000 Jahre hinweg kühl, trocken und weit gehend abgeschlossen von der Luft lagerten. Doch nicht nur die aktuellen Funde brachten neue Erkenntnisse zu den Neandertalern, auch die erneute Untersuchung der seit 1856 bekannten Knochen. „Zum Beispiel fanden sich Schnitte seitlich am Schädel und im Bereich des Hinterhauptes. Manche Forscher ließ das an Spuren von Kannibalismus denken, doch aus anderen Gegenden ist bekannt, dass bei Totenriten das Gehirn durch das erweiterte Hinterhauptsloch entfernt und aufgegessen wurde“, erklärt Schmitz. Auch die Untersuchung eines Göttinger Pathologen brachte Neuigkeiten: Offenbar hatte sich der Neandertaler in der Jugendzeit den linken Arm gebrochen, der rechte war besonders kräftig geworden. Schmitz wollte Dünnschliffe von den Knochen anfertigen und die Knochendichte messen. „Dazu muss man aus den Knochen Material entnehmen und braucht natürlich sehr gute Argumente. Ein Gramm der Neandertalerknochen ist wertvoller als ein Gramm des Gesteins, das Apollo 11 von der ersten Mondlandung mitgebracht hat“, sagt der Forscher. Unter strengen Auflagen erhielt er die Genehmigung des Rheinischen Landesmuseums Bonn, das den Fund seit 1877 für die Forschung bereithält.

„Man weiß, dass die Neandertaler und die aus Afrika über den Nahen Osten nach Europa eingewanderten modernen Cro-Magnon-Menschen über 5000 bis 10 000 Jahre parallel nebeneinander existiert haben müssen“, sagt Schmitz. Aber haben sie sich vermischt? Die Paläogenetik, also die genetische Untersuchung an fossilem Material, stand in den 1990er Jahren noch am Anfang. Die ersten Erfolge hatten Forscher mit der genetischen Zuordnung von Tieren, die erst vor 100 Jahren ausgestorben waren, und der Untersuchung von einige tausend Jahre alten Mumien. „Die Neandertalerknochen waren viel älter, rund 40 000 Jahre. Matthias Krings im Labor des Münchner Spezialisten für Paläogenetik Svante Pääbo wollte es dennoch wagen“, erzählt Schmitz. Die DNA zerfällt mit der Zeit, die Schnipsel sind immer schwerer zu isolieren. Durch Röntgenuntersuchungen musste man einen gut erhaltenen Knochenteil finden. „Wir haben insgesamt kostbare 3,5 Gramm Knochenmaterial aus dem kräftigen Oberarmknochen entnommen und davon zunächst ein Zehntel Gramm untersucht, in dieser Probe war jedoch kein Genmaterial enthalten. Mit 0,4 Gramm hatten wir Erfolg. Mit den Suchenzymen für menschliche DNA sind wir fündig geworden“, erzählt Schmitz. Es sei dann noch zu klären gewesen, ob die Probe nicht längst durch Berührung mit den Genproben anderer Menschen verunreinigt war. Doch da half die so genannte mitochondriale DNA weiter, Erbgut aus den „Kraftwerken“ der Zelle. Die rund 16 000 Bausteine sind gut erforscht und mit einem Standardverfahren zu erschließen. „Bei heutigen Menschen zeigen sich bei zwei beliebigen Individuen in dieser Genregion durchschnittlich acht Abweichungen, beim Vergleich von Neandertaler und heutigem Menschen sind es aber 27. Wir hatten also tatsächlich die erste Gensequenz eines Neandertalers isoliert“, erklärt Schmitz und fügt hinzu: „Der Genpool des Neandertalers hat wenig zu unserem Genpool beigetragen, die Neandertaler waren eine Außengruppe zu den modernen Menschen.“

Die Neandertaler seien „Kinder Europas“. Alle heute lebenden Menschen stammen dagegen aus Afrika, ihre Vorfahren erreichten Europa über Asien. Vor 100 000 Jahren gab es eine zweite Auswanderungswelle vom Nahen Osten nach Europa. Warum die Neandertaler damals verschwunden sind, lässt sich bisher nicht klären. „Kulturell waren sie den modernen Menschen keineswegs unterlegen“, räumt Schmitz mit einem gängigen Vorurteil auf. Vielleicht, so der Forscher, gäbe es heute zwei Unterarten von Menschen auf der Erde, wenn der moderne Mensch nicht nach Europa eingewandert wäre. Auch das zweite, 1997 im Neandertal gefundene Skelett wurde genetisch untersucht. „Die Gensequenzen aus den beiden Skeletten sind nicht identisch. Mütterlicherseits sind die beiden Menschen nicht verwandt gewesen, das ließ sich an der mitochondrialen DNA feststellen, die nur mütterlich vererbt wird“, erklärt Schmitz. Außerdem lasse die Datierung nur eine Genauigkeit von plus/minus 600 Jahren zu. Er könne also nicht sagen, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis die beiden Neandertaler zueinander standen und ob sie zur gleichen Zeit gelebt haben. Daher war die Neandertaler-Familie mit Mann, Frau und Kind nur theoretisch vollständig, als sich bei der Bearbeitung der Funde der Milchzahn eines Neandertalers fand: „Ralf, wir haben ein Kind“, soll der Kollege Fred H. Smith da gerufen haben.

Nähere Informationen:

Dr. Ralf W. Schmitz
Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters
Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie
Burgsteige 11 (Schloss)
72070 Tübingen
Tel. 07071 – 2977113 und 07071 – 2977111
e-mail: ralf.w.schmitz@uni-tuebingen.de

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Michael Seifert idw

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