An der Sialinsäure erkennt sich der Mensch selbst
Für die Abwehr einer Infektion schaltet sich in der Regel das Immunsystem ein. Es muss im ersten Schritt erkennen, ob es tatsächlich Eindringlinge wie zum Beispiel Bakterien vor sich hat oder Zellen des eigenen Körpers. Sonst würde es im schlimmsten Fall die Zerstörung des eigenen Gewebes veranlassen und dem Menschen selbst schaden.
Die Unterscheidung von Fremd und Selbst geschieht anhand bestimmter Strukturen auf den Zelloberflächen. Nun ist es Dr. Bärbel Blaum und Professor Thilo Stehle vom Interfakultären Institut für Biochemie der Universität Tübingen in Kooperation mit Forschern in Großbritannien und Colorado, USA, gelungen, ein solches molekulares Muster zu identifizieren und den Erkennungsmechanismus aufzuklären. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Sialinsäure.
Die Erkennungsmuster auf den menschlichen Zellen bestehen aus komplex aufgebauten Glykanen, langen, teilweise verzweigten Ketten aus verschiedenen Zuckern. Der chemisch wichtigste Bestandteil dieser ‚Selbst’-Marker ist die Sialinsäure. Bereits Ende der 1970er Jahre fanden Forscher Hinweise darauf, dass die Sialinsäure für die Regulierung des sogenannten Komplementsystems, eines Zweigs der angeborenen Immunabwehr, wichtig ist.
Das Komplementsystem besteht aus einer Reihe von Proteinen, die sich im Blutserum aufhalten und bei der Erkennung von Eindringlingen eine Reaktionskaskade zu deren Vernichtung in Gang setzen. Wie die Sialinsäure das Komplementsystem bremsen könnte, war jedoch unklar.
Die Tübinger Forscher identifizierten und kristallisierten einen Bindungskomplex, der die Kontaktstelle zwischen der Körperzelle und dem Immunsystem bildet. Mittels Kernresonanzspektroskopie und Röntgenstrukturanalyse klärten sie die molekulare Struktur des Komplexes auf. Er besteht aus sialinsäurehaltigen Glykanen und einem Regulator des Komplementsystems, Faktor H genannt.
„Auf körpereigenen Zellen verursacht die Erkennung der Sialinsäure durch Faktor H das Abbrechen der Komplementkaskade, so dass Zellen mit diesen Zuckerstrukturen unbeschädigt bleiben“, fasst Bärbel Blaum zusammen. Die Forscher vermuten, dass genau dieser Erkennungsmechanismus bei einer seltenen schweren Nierenerkrankung (atypisches hämolytisch-urämisches Syndrom – aHUS) gestört ist.
„Aus genetischen Untersuchungen wissen wir, dass bei manchen aHUS Patienten ein Teil des Faktors H geschädigt ist, und es stellt sich nun heraus, dass diese Schädigung häufig die Sialinsäure-Bindestelle im Faktor H betrifft“, erklärt die Wissenschaftlerin. Die genaue Struktur des Bindekomplexes wird den Forschern auch helfen, Strategien von krankheitserregenden Bakterien besser zu verstehen, die dem Immunsystem entkommen können, indem sie Faktor H mit der Sialinsäure-Bindestelle an sich binden und dem Immunsystem dann fälschlich als körpereigen erscheinen.
Originalpublikation:
Bärbel S Blaum, Jonathan P Hannan, Andrew P Herbert, David Kavanagh, Dušan Uhrín & Thilo Stehle: Structural basis for sialic acid-mediated self-recognition by complement factor H. Nature Chemical Biology, DOI: 10.1038/nchembio.1696
Kontakt:
Universität Tübingen
Medizinische Fakultät und Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Interfakultäres Institut für Biochemie
Dr. Bärbel Blaum
Telefon + 49 7071 29-75359
baerbel.blaum[at]uni-tuebingen.de
Prof. Dr. Thilo Stehle
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