Fachkräftemangel und neue Qualifikationen als Herausforderung für Bildungs- und Beschäftigungssystem

Die Studierendenzahlen werden in den kommenden Jahren trotz steigender Studienberechtigtenzahlen kaum noch steigen, sondern eher sinken. Die derzeit laufende Umstellung auf das Bachelor- und Masterstudium und die vorgesehene Beschränkung des Zugangs zum Masterstudium wird den Anteil der Höchstqualifizierten verringern und das Fachkräfteproblem der Unternehmen verstärken.

Dies gilt insbesondere in den neuen Ländern, wo die Unternehmen in den nächsten Jahren nicht nur Hoch- und Höchstqualifizierte suchen werden, sondern auch Auszubildende. Diese Herausforderungen sind Diskussionsgrundlage der heutigen FiBS-Konferenz, die Entscheider aus Berufsbildung, Hochschule, Weiterbildung und Personalentwicklung zusammenführt, um gemeinsam geeignete Strategien und Konzepte zu erörtern.

Dr. Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie präsentiert auf der heutigen Veranstaltung im Berliner Hotel Schweizerhof folgenschwere Studienergebnisse. Er zeigt anhand einer aktuellen Vorausschätzung der zukünftigen Studierendenzahlen, dass diese zwar bis 2010 noch leicht steigen könnten, dann aber sukzessive von rund 2,0 Millionen über 1,8 Millionen (2015) auf etwa 1,6 Millionen Ende des nächsten Jahrzehnts absinken werden. Dabei wird die zurzeit laufende Umstellung auf die neue Studienstruktur berücksichtigt. Zwischen 2020 und 2030 erwartet der Bildungsökonom rund 1,5 Millionen Studierende, sofern die Zahl der Studienberechtigten nicht deutlich erhöht oder der Zugang zum Studium vereinfacht wird.

Eine differenzierte Betrachtung der west- und ostdeutschen Länder verdeutlicht die unterschiedlichen Herausforderungen in beiden Regionen. In den alten Ländern ist in den kommenden Jahren aus demografischen Gründen und doppelter Abiturientenjahrgänge mit einem teilweise beträchtlichen Anstieg der Studienberechtigtenzahlen von derzeit rund 325.000 auf rund 400.000 Anfang der kommenden Dekade zu rechnen, der dann bis Ende des kommenden Jahrzehnts auf das derzeitige Niveau absinken wird. In den neuen Ländern wird die Zahl der Studienberechtigten hingegen von derzeit rund 90.000 auf etwa 40.000 im Jahr 2013 einbrechen. Anschließend wird es wieder einen leichten Anstieg auf rund 50.000 geben. Wenn es nicht gelingt, in beträchtlichem Umfang Studierendenströme aus den alten in die neuen Länder zu lenken, wird dies zu einer gegenläufigen Entwicklung der Hochschullandschaft in Ost- und Westdeutschland führen: Überfüllte Hörsäle in westdeutschen und leere in den ostdeutschen Hochschulen.

Ohne entsprechende Zuwanderung aus dem Westen oder dem Ausland dürften die Studienanfängerzahlen in den neuen Ländern – einschließlich Berlin – von derzeit gut 70.000 auf rund 40.000 ab dem Jahr 2011 absinken. Nimmt man Berlin von dieser Betrachtung aus, dann dürfte sich die Zahl der Studienanfänger von knapp 50.000 auf unter 25.000 verringern; im ungünstigsten Fall, also ohne eine Erhöhung der Studierneigung, gar auf etwa 21.000. Die sinkenden Studienanfängerzahlen führen zu einem Absinken der Studierendenzahlen insgesamt von derzeit 285.000 auf 110.000. Dies ist auch in den neuen Ländern durch die deutlich geringeren Studienzeiten im Zuge der Umstellung des Studiums auf Bachelor- und Masterabschlüsse sowie die mögliche Begrenzung des Zugangs zum Masterstudium bedingt. Neben der Anwerbung von Studierenden aus den alten Ländern und dem Ausland könnte ein Ansatz zur Erhöhung der Studierendenzahlen darin bestehen, den Zugang zum Masterstudium an den ostdeutschen Hochschulen offen zu halten.

Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass sich die Studierneigung junger Menschen aus den neuen Bundesländern auch noch verringern könnte, wenn der demografische Wandel bereits in diesem und dem kommenden Jahr das Berufsbildungssystem erreicht. War ein Studium für manche bisher ein Ausweg, wenn sie keinen Ausbildungsplatz bekommen hatten, so könnte sich nun die Situation vollständig umkehren. Die Betriebe müssen sich mehr als bisher bemühen, um hochqualifizierte Jugendliche zur Ausbildung zu bewegen.

Ursächlich dafür ist, dass sich die relevanten Altersjahrgänge von derzeit 170.000 Personen um über die Hälfte auf bis zu 75.000 verringern werden. Dies wird zwangsläufig zu einer deutlichen Verringerung der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen führen. Wurden 2005 rund 116.000 neue Ausbildungsverträge in den neuen Ländern geschlossen, wobei viele Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz erhielten, so werden die ostdeutschen Betriebe und Handwerker bald händeringend nach Auszubildenden suchen. Auch bisher unversorgte Jugendliche werden nun bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz erhalten. Sollten auch Studienberechtigte eine Ausbildung als attraktive Alternative zu einem Studium ansehen, würde sich die Zahl der Studienfänger weiter verringern.

„Für die Jugendlichen der neuen Bundesländer bietet der demografische Wandel eine hervorragende Chance,“ stellt Dohmen fest. „Jeder junge Mensch, der über eine ordentliche Schulbildung verfügt, wird in Zukunft einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Ausbildungsbetriebe werden froh sein, wenn sie ihre Ausbildungsplätze überhaupt mit qualifizierten Bewerbern besetzen können. An die Schulen muss daher die Aufforderung ergehen, jeden leistungsschwächeren Jugendlichen individuell zu fördern und zur Ausbildungsreife zu bringen.“

Im westdeutschen Berufsausbildungssystem ist hingegen vorläufig nicht damit zu rechnen, dass sich der Druck durch geburtenstarke Jahrgänge verringert.

Entspannung könnte allenfalls dadurch eintreten, wenn die verbleibende Lücke in den neuen Ländern durch Jugendliche aus den alten Ländern gefüllt werden kann. Dies könnte auch positive Auswirkungen auf die Jugendlichen haben, die in den Vorjahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.

„Es könnte allerdings in den nächsten Jahren von einer ganz anderen Seite ein beträchtlicher Druck auf das Berufsbildungssystem ausgehen,“ fügt der Bildungsökonom an. „Aus den Hochschulen werden in den nächsten Jahren zunehmend Bachelorabsolventen in den Arbeitsmarkt drängen, für die die allermeisten Unternehmen nach keine adäquaten Einstiegspositionen haben schaffen können und über deren Kompetenzen und Kenntnisse sie noch nicht viel wissen.“ Die ungünstige Lage wird dadurch verstärkt, dass in den nächsten Jahren extrem viele Absolventen die Hochschulen verlassen, die noch nach den in Unternehmen bekannten Mustern ausgebildet sind und daher meist bevorzugt werden dürften. „Es kommt nicht zu einem Studenten-, sondern zu einem Absolventenberg,“ so Dohmen weiter. „Es stehen Jahre vor uns, in denen bis zu 350.000 Absolventen gleichzeitig auf den Arbeitsmarkt drängen werden, bedingt durch steigende Studienanfängerzahlen Anfang des Jahrtausends, die noch nach dem alten System mit langen Studienzeiten studieren, und neue Jahrgänge mit kurzen Studienzeiten bis zum Bachelorabschluss.“

„Durch die parallelen Entwicklungen werden die Bachelorabsolventen in einen Verdrängungswettbewerb getrieben,“ verdeutlicht der Berliner Bildungsökonom, „den die meisten kaum gewinnen können, da die meisten Unternehmen nicht ganz zu Unrecht annehmen werden, dass Absolventen mit einem Abschluss nach einem Studium mit vier- bis fünfjähriger Regelstudienzeit mehr Kompetenzen und Kenntnisse erlangt haben, als diejenigen mit einer dreijährigen Regelstudienzeit.“ Dies dürfte die Bachelorabsolventen zwingen, sich dort zu positionieren, wo sie mit Absolventen des Berufsbildungssystems konkurrieren. Geht man davon aus, dass sie dann bereit sind, zu geringeren Gehältern als andere Hochschulabsolventen zu arbeiten, werden sie für Unternehmen besonders attraktiv. „Dies könnte einen Teil der Unternehmen dazu veranlassen, sich zumindest teilweise aus der dualen Ausbildung zurückzuziehen,“ meint Dohmen, „schließlich werden Investitionen in Humankapital am Kapitalmarkt nicht wirklich honoriert, zumal die Planungshorizonte für Unternehmen immer kürzer werden und sich Ausbildungsinvestitionen vor allem dann lohnen, wenn der oder die Auszubildende auch übernommen wird. Der Rückgriff auf Bachelorabsolventen könnte damit als lohnendere Alternative gelten.“

Zumindest quantitativ zeichnet sich insbesondere für die westdeutschen Unternehmen in den kommenden Jahren eine relativ komfortable Situation ab. Sie werden zunächst noch auf ein ausreichendes Angebot an hochqualifizierten Arbeitskräften zurückgreifen können. Dies gilt allerdings nur mit Einschränkungen für den Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften, in dem sich bereits heute ein Fachkräftemangel abzeichnet. Die steigende Zahl an Studienanfängern in diesen Fächern zu Anfang des Jahrtausends wird zwar in den nächsten Jahren zu leicht höheren Absolventenzahlen als in den letzten Jahren führen. Jedoch wird dies den negativen Trend nur vorübergehend etwas abschwächen. Dies gilt umso mehr, als sich der Rückgang der Studienanfängerzahlen im letzten Wintersemester deutlich überproportional in den Ingenieurwissenschaften widerspiegelt.

Für die ostdeutschen Unternehmen wird eine zentrale Frage in den nächsten Jahren darin bestehen, in welchem Umfang sie von der großen Zahl an Hochschulabsolventen aus den westdeutschen Hochschulen profitieren können. Sie werden nämlich ansonsten ihren eigenen Ersatzbedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften bereits ab 2011 nicht mehr befriedigen können. „Spätestens 2015 endet die allerletzte Galgenfrist,“ sagt Dohmen. „Wer danach noch neue Hochschulabsolventen einstellen will, wird sich in einem gnadenlosen Wettbewerb mit anderen Unternehmen begeben müssen. Dann werden Masterabsolventen zum knappen Gut, und zwar sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Dies bedeutet, dass sich die Masterabsolventen die besten Unternehmen und die besten Bedingungen werden aussuchen können. Zumindest für die Höchstqualifizierten wird sich der Arbeitsmarkt dann vollkommen umgekehrt haben und ein Masterstudium wird eine glänzende Investition. Wird der Zugang zum Masterstudium an öffentlichen Hochschulen wirklich begrenzt, dann machen die Wissenschaftsminister den Weg für neue Privathochschulen frei. Für die deutschen Unternehmen beginnt dann das Tal der Tränen und die Suche nach Alternativen.“

„In der Hochphase des Fachkräftemangels in der Mitte der 2020er Jahren werden jährlich über 50.000, in ungünstigsten Fall auch über 80.000 Masterabsolventen pro Jahr fehlen,“ fasst Dohmen die Arbeit des Instituts zusammen. „Nach den derzeitigen Entwicklungen muss man ferner davon ausgehen, dass wohl weit über 100.000, vermutlich gar über 200.000 Arbeitsplätze jedes Jahr frei werden, die nicht besetzt werden können. Die Generation, die jetzt oder in den letzten Jahren geboren wurde, steht vor einer guten Zukunft. Für alle qualifizierten Arbeitskräfte wird es eine Stelle geben. Für die Unternehmen sieht es weniger rosig aus: Insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen und solche, die in einem weniger attraktiven Umfeld angesiedelt sind, werden zu den Verlierern gehören, da sie ihren Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften nicht werden decken können.“

Doch soll auf der Fachtagung nicht nur die Problematik zwischen Bildung und Personalentwicklung aufgezeigt, sondern auch mögliche Lösungswege vorgestellt werden.

Ein erfolgreiches Beispiel für durchlässige Ausbildungsstrukturen und ein aktives Zusammenarbeiten von Hochschulen und Unternehmen ist die HUK-COBURG Versicherungsgruppe. Der deutsche Versicherer von über acht Millionen Kunden beschäftigt knapp 8.000 Mitarbeiter, davon 4.670 in der Coburger Zentrale. Berufsbegleitendes Studieren ist fester Bestandteil praxisorientierter Personalentwicklung.

So studieren 36 der rund 240 Auszubildenden zum Versicherungs- und Finanzkaufmann parallel Versicherungswirtschaft. Der Bachelor-Studiengang der Fachhochschule Coburg entstand aus einer Initiative der HUK-COBURG bei der Bayerischen Landesregierung ab November 2003 und läuft schon seit Wintersemester 2004/2005. Die Zeit- und Lehrpläne zwischen Berufsschule, Hochschule und Unternehmen sind aufeinander abgestimmt, fordern aber einen hohen Einsatz von den studierfähigen Auszubildenden.

Nur ein Jahr später startete der Master-Studiengang Versicherungsmanagement an derselben Hochschule. Die Regelstudienzeit umfasst vier Semester. Acht Mitarbeiter der Versicherungsgruppe sind hier eingeschrieben. Die finanzielle Unterstützung und entsprechende Freistellung von der Arbeitszeit für den nötigen Spielraum ist inbegriffen.

Ein Bildungsnetzwerk nordbayerischer Versicherungsgesellschaften, eine vom Förderverein ermöglichte Stiftungsprofessur, die geplante Einbindung der Universität Erlangen-Nürnberg in das Hochschul-Projekt und der selbstverständliche Einbezug von Praktikern in die Lehre ergänzen die Bemühungen der HUK-COBURG um qualifizierte Mitarbeiter.

Ziel des Ganzen ist für den Konzern vor allem die Nachwuchssicherung und Mitarbeiterbindung in der Region Nordbayern. Auch zukünftige Führungskräfte werden dadurch gefördert. Die Hochschulen profitieren aus Sicht von Klaus Schröter, dem Leiter der Personalentwicklung bei der HUK-COBURG, aber genauso: „Durch das Implementieren anspruchsvoller und praxisorientierter Studiengänge steigt die Attraktivität der Hochschule.“

Dass die Attraktivität von Hochschulen ein wichtiger Faktor ist, zeigte schon die letzte Konferenz des FiBS im November 2006, die wichtige Ansätze für die Struktur- und Exzellenzbildung an den Hochschulen der neuen Länder diskutierte.

Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS)

Das FiBS ist eine unabhängige Forschungs- und Beratungseinrichtung für Ministerien auf Bundes- und Länderebene, Bildungs- und Sozialeinrichtungen, Unternehmen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Stiftungen, Fachverbände und internationale Organisationen. Die Analysen, übergreifenden Studien, konkreten Modelle und Strategiekonzepte behandeln alle ökonomischen Aspekte von Bildung, sozialen Fragen, Arbeitsmarkt und Innovation. Weiterbildung und Lebenslanges Lernen spielen dabei eine zentrale Rolle.

Kontakt: Birgitt A. Cleuvers (FiBS), Tel. 0 30 – 84 71 22 3-20

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