Duale Berufsbildung im internationalen Vergleich: Renaissance eines deutschen Traditionssystems

Immer wieder wird die duale Berufsausbildung als überholt erklärt. In dem Projekt „Innovative Apprenticeship“ (Innovative duale Berufsausbildung) belegen Forschergruppen aus neun Nationen das Gegenteil. Nun haben sie ihr Erfolgsprojekt verstetigt: Während der 14. Hochschultage Berufliche Bildung an der Universität Bremen präsentierten die Projektpartner ihre Forschungsergebnisse und gründeten ein Netzwerk. Initiiert wurde der Verbund vom Institut Technik und Bildung an der Universität Bremen (ITB), das gemeinsam mit der Charles Sturt University in Wagga/Australien die wissenschaftliche Leitung inne hat.


In dem Netzwerk arbeiten Forschergruppen aus Australien, Dänemark, Deutschland, Italien, Großbritannien, Österreich, den USA, der Türkei und aus den Niederlanden zusammen. Sie untersuchen die Situation und die Perspektiven betrieblichen Lernens in dualen Ausbildungsformen. Dazu führen sie in ihren Ländern nach einem gemeinsamen, vom ITB erstellten Untersuchungsdesign Fallstudien in Unternehmen verschiedener Branchen mit guter Ausbildungspraxis durch. Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden identifiziert, Beispiele guter Ausbildungspraxis herausgestellt und schließlich international miteinander verglichen. Ziel ist das Bereitstellen von Ergebnissen, die es erlauben, voneinander zu lernen.

Zu teuer sei es, unattraktiv, und den Herausforderungen der Wissensgesellschaft nicht mehr gewachsen, so die Kritiker. „Dem dualen Bildungssystem wird seit langem der Untergang prophezeit“, sagt Bildungsexperte Professor Felix Rauner, ITB-Gründer und wissenschaftlicher Leiter des neuen Netzwerkes. Diese Auffassung zeige sich unter anderem in der Novellierung des deutschen Berufsbildungsgesetzes, das schulische Lernformen der dualen beruflichen Ausbildung gleichstellt. „Doch trotz aller Kritik: In deutschsprachigen Ländern macht es nach wie vor den Kern der Berufsausbildung aus. Und seit einigen Jahren wächst das internationale Interesse an dieser traditionsreichen Ausbildungsform.“ Bei der Suche nach Alternativen erlebe sie eine Renaissance.

Eine dieser neuen Lösungen beschreibt ITB-Wissenschaftlerin Ines Herrmann. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Philipp Grollmann koordiniert sie das Netzwerk. „Englische Berufsbildungsexperten haben ein Zertifizierungskonzept entwickelt, nach dem jeder Einzelne selbst dafür verantwortlich ist, welche Qualifikationen er sich zu welchem Zeitpunkt aneignet“, erklärt die Spezialistin für Internationale Berufsbildungsforschung. Als Navigationssystem sei ein umfangreiches Qualifizierungsraster erstellt worden, in das nach dem Prinzip eines Baukastensystems alle beruflichen Fertigkeiten eingeordnet werden können – angefangen von Fertigkeiten auf dem Angelernten-Niveau bis auf die Ebene akademischer Fertigkeiten. „Diese Strategie der Flexibilisierung der beruflichen Bildung hat zu einem erheblichen Verlust an beruflich qualifizierten Fachkräften und zu einem ’undurchsichtigen Dschungel’ von zertifizierbaren Qualifikationsbausteinen geführt“, sagt Herrmann. Unternehmen und Schulabgänger hätten die größten Orientierungsschwierigkeiten, sich in dem kaum durchschaubaren Zertifizierungssystem zu orientieren.

Die Lehre als „goldener Boden“ für lebenslanges Lernen

Zahlreiche Experten seien sich einig, dass die Wiederentdeckung der Lehre eine Antwort auf solche Fehlentwicklungen sei, sagt Grollmann. „Die Lehre als ’goldener Boden’ für das lebenslange Lernen hat offenbar eine Reihe weiterer Vorteile: In Ländern wie der Schweiz, Dänemark und Australien kann man mit einer dualen Berufsausbildung zugleich die Hochschulreife erwerben.“ Grollmann weiter: „Beginnt ein Absolvent der Sekundarstufe I als 16- oder 17-Jähriger eine Lehre, verfügt er mit 19 oder 20 Jahren über eine Berufsausbildung und kann daran ein Studium anschließen. In der Schweiz ist dieser Karriereweg mittlerweile genau so attraktiv wie der Weg über das Abitur zur Hochschule.“

Während der 14. Hochschultage warteten die Mitglieder des neuen Netzwerkes mit zahlreichen Praxisbeispielen und Fallstudien auf, die die zum Teil gravierenden Unterschiede der Systeme in den verschiedenen Nationen zeigten. So sind zum Beispiel in Österreich die Auszubildenden durchschnittlich drei Jahre jünger als in Deutschland. Und während hierzulande zwischen 350 Berufen unterschieden wird, sind dies in Dänemark weniger als 100 und in der Schweiz knapp 200 Berufe. In diesen beiden Ländern sind die Berufe in ihren Aufgabenzuschnitten breiter angelegt. „Das kommt den Arbeitsmärkten zugute“, sagt Rauner. „Und wenn zum Beispiel wenn die Auszubildenden mehr Zeitanteile im reflektiven Arbeitsprozess verbringen, sinken die Kosten.“ So werde diese Ausbildungsform wieder attraktiver für die Unternehmen und zudem steige die Qualität.“ Die Ergebnisse der Diskussionen fasst er so zusammen: „Betriebliche Lehrlingsausbildung hat Zukunftsperspektiven.“

Ergebnisse aus den Fallstudien, die im Symposium „Rediscovering Apprenticeship“ während der 14. Hochschultage Berufliche Bildung in Bremen vorgestellt wurden

Als eine qualitativ hochwertige Form der Organisation betrieblichen Lernens mit Zukunftspotenzial erweist sich das Lernen in Ausbildungspartnerschaften. Das wurde bei den Präsentationen aus den Niederlanden und Italien deutlich. Besondere Chancen hat dieses Modell, wenn es sich in bereits existierende Formen der betrieblichen Kooperation in Netzwerkbeziehungen eingliedern kann. Das verdeutlichte auch einer der australischen Fälle. Dort dominiert die Praxis, Auszubildende mit Unterverträgen an andere Unternehmen zu verleihen. Dänische Modelle beschäftigen sich ebenfalls mit der Organisation beruflicher Erstausbildung in Ausbildungsverbünden.

Anhand von Fallstudien aus England und Australien wurde gezeigt, dass duales Lernen durchaus mit modernen Formen der betrieblichen Personal- und Organisationsentwicklung korrespondieren kann. Die dänische Präsentation illustrierte die Bandbreite der Organisation qualitativ hochwertigen betrieblichen Lernens in kleinen und mittleren Unternehmen. Hier zeigt sich eine Vielfalt, die sich der Möglichkeit einer Standardisierung durch bürokratische Regelungsinstrumente weitgehend entzieht. So müssen andere Formen der Qualitätssicherung und -entwicklung gefunden werden. In eine ähnlich Richtung geht die Feststellung des österreichischen Referenten: Im Wettbewerb zwischen schulischer und beruflicher Bildung bieten die geringen gesetzlichen Festlegungen keine Qualitätssicherung.

Der deutsche Betrag bezog sich unter anderem auf die nachlassende Attraktivität des deutschen dualen Systems in Abhängigkeit zu der Kosten-Nutzen-Relation für Betrieb und Auszubildende. Der Schluss der ITB-Wissenschaftler: Nur wenn der Nutzen der betrieblichen Ausbildung erhöht und gleichzeitig die Attraktivität durch eine hohe Qualität gesteigert werden, hat die duale Ausbildung eine Chance im Wettbewerb mit anderen, zum Beispiel vollzeitschulischen Ausbildungsformen. Alle Teilnehmer betätigten mit ihren Untersuchungen, dass es mit einer Lehre gelinge, einen anspruchsvollen Beruf in drei bis vier Jahren bis zur Berufsreife zu erlernen. Schulische Formen der Berufsausbildung verursachen dagegen häufig sehr viel höhere Kosten für alle Beteiligten, sondern dauern auch deutlich länger, da sich an die schulische Ausbildung in der Regel ein bis zwei Jahre Einarbeitungszeit anschließen.

Weitere Informationen und Ansprechpartner für die Medien:

Prof. Dr. Felix Rauner (ITB, Universität Bremen)
Telefon 0421 218-46 34, E-Mail: itbs@uni-bremen.de

Dr. Philipp Grollmann (ITB, Universität Bremen)
Telefon 0421 218-46 26, E-Mail: grollmann@uni-bremen.de

Ines Herrmann (ITB, Universität Bremen)
Telefon 0421 218-82 93, E-Mail: iherrman@uni-bremen.de

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Angelika Rockel idw

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