Wie Grundschulkinder neue Sprachen lernen

Erziehungswissenschaft – Kleine Kinder lernen ihre Muttersprache meistens mühelos. Mit zunehmendem Alter aber fällt das Sprachenlernen schwerer. Es ist daher nahe liegend, mit dem Fremdsprachenunterricht früh zu beginnen und den Kindern Offenheit für neue Sprachen zu vermitteln. Prof. Erika Werlen leitet eine Projektgruppe, die die Einführung des Fremdsprachenunterrichts an den Grundschulen Baden-Württembergs wissenschaftlich begleitet.

Wissenschaftliches Begleitprojekt in Baden-Württemberg

Europa wächst weiter zusammen, die Beherrschung von Fremdsprachen wird immer wichtiger. In der Erziehungswissenschaft werden Konzepte für eine Sprachausbildung entwickelt, die Kindern die Fähigkeit vermitteln soll, lebenslang offen gegenüber neuen Sprachen zu bleiben und Zutrauen zur eigenen sprachlichen Lernleistung zu erlangen. Als erstes deutsches Bundesland hat Baden-Württemberg mit dem Schuljahr 2003/04 den Fremdsprachenunterricht in allen ersten Klassen der 2500 Grundschulen des Landes eingeführt. Vorbereitet wurde dies bereits im „Europäischen Sprachenjahr 2001“. Damals begannen Schülerinnen und Schüler an 470 Schulen von der ersten Klasse an, Französisch an der Rheinschiene und Englisch im Binnenland zu lernen. Prof. Erika Werlen, Sprachwissenschaftlerin und Sprachdidaktikerin, leitet ein am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen angesiedeltes interdisziplinäres Projekt, das die flächendeckende Einführung des Fremdsprachenunterrichts an den Grundschulen Baden-Württembergs wissenschaftlich begleitet (WiBe-Projekt). Die pädagogische Begleitung hat der Schulpädagoge Prof. Hans-Ulrich Grunder übernommen.

Um die Lernprozesse der Kinder beobachten zu können, haben die Wissenschaftlerinnen das Unterrichtsgeschehen auf Videofilme gebannt. An der Kamera haben die Kinder sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr gestört, so Erika Werlen. Eine Kerngruppe wertet die Aufnahmen aus einer ersten Klasse aus, die viermal in der Woche je 20 Minuten Englischunterricht durch eine Klassenlehrerin oder Fachlehrerin erhielt. Sprachenlernen, sagt die Forscherin, beruht nur zu einem geringen Teil auf Imitation. Vielmehr bildeten die Kinder recht schnell ein eigenes System aus: „Sie stellen sozusagen Hypothesen über die Struktur der neuen Sprache auf, die sie ständig überprüfen, wenn etwas Neues hinzukommt, und immer wieder korrigieren“. Nicht nur Erwachsene oder Jugendliche, sondern auch Kinder reflektieren beim Erwerb einer Fremdsprache sprachliche Formen und Funktionen betonen die WiBe-Projektmitarbeiterinnen Jeanette Haunss und Stephanie Manz. Schülerinnen und Schüler entwickelten im Fremdsprachenunterricht eine so genannte ’Zwischensprache’, ein individuelles, regelhaftes Sprachsystem, das sich sowohl von der Erstsprache als auch von der zu erwerbenden Zweitsprache unterscheidet. Die Abweichungen dieser Zwischensprache von der Zweitsprache werden herkömmlich häufig als Fehler wahrgenommen. Zum Beispiel experimentieren die Kinder mit Ähnlichkeiten im Klang zwischen dem Deutschen und Englischen, um durch die Verschiebung von Lautmustern auf ein gesuchtes englisches Wort zu kommen. Sie bilden dabei Formen wie „snake“ für „Schnecke“, was eigentlich als „Schlange“ zu übersetzen ist, oder „fresh“ für „Frosch“, was aber „frisch“ bedeutet. Auch wenn solche Versuche nicht zum richtigen Ergebnis führen, fußen sie doch auf validen Annahmen über Regelmäßigkeiten der englischen Sprache.

Wenn die Lernenden ihre Hypothesen verfestigt haben, können sie beginnen, Paradigmen aufzubauen. Im WiBe-Projekt wird deutlich, wie Kinder Ordnung im System anstreben. Zu Beginn des ersten Schuljahres zeigen Äußerungen von Schülerinnen und Schülern, dass von Lehrkräften präsentierte Äußerungen zunächst als unanalysierte „Chunks“ (Klumpen, Brocken)gelernt werden: kennen sie beispielsweise nur die Begriffe „shoulders“ oder „eyes“, bilden sie möglicherweise die Formen „right shoulders“ oder „left eyes“. Allmählich beginnen die Kinder dann, die Wort- und später auch die Satzstruktur zu begreifen. Typische Beispiele dafür, dass die Kinder anfangen, das Satzgefüge „aufzubrechen“ sind Äußerungen wie „das sind two cats“ oder „sae (schwäbisch für „sein“) birthday is in January“: Die Lernenden haben ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass ihnen für eine korrekte Formulierung ein Teil der Wörter oder Formen noch nicht zur Verfügung steht und behelfen sich mit der entsprechenden deutschen Form.

Kinder korrigieren sich auch gegenseitig: „Wenn ein Kind bei der Aussprache schwäbelt ’this isch a cat’, lassen die Mitschüler das nicht gelten.“ Den Lehrkräften raten die Wissenschaftlerinnen, das Englische im Unterricht zu benutzen wie sonst das Deutsche. „Schließlich müssen Kinder auch in der Muttersprache häufig neue Begriffe lernen“, sagt Stephanie Manz und nennt ein Beispiel: der Vater kehrt dem Kind den Rücken zu und sagt: „Gib’ mir doch bitte mal den Inbus-Schlüssel“. Selbst wenn das Kind dieses Wort nicht kennt, wird es nach kurzer Suche nach dem Werkzeug greifen, das es als einziges im Raum bis dahin nicht bezeichnen konnte. Im Unterricht werden außerdem Schlüsselworte wiederholt, die Aufmerksamkeit der Kinder auf neue Sachen hingeführt.

Insgesamt, so der erste Eindruck der Tübinger Forscherinnen, die noch an der Auswertung arbeiten, fanden sich die Kinder schneller in die neue Sprache ein, als anfangs angenommen wurde. „Die Kinder sind erstaunlich schnell bereit, Englisch zu sprechen. Man wollte ihnen eigentlich eine lange ’stille Phase’ am Anfang einräumen, das war gar nicht nötig“, sagt Stephanie Manz. Unmotivierte Grundschulklassen im Sprachunterricht haben die Forscherinnen nicht erlebt. „Allerdings hat dieser Unterricht den Bonus einer Spielstunde, weil die Kinder viel singen, spielen und sich bewegen“, setzt Jeanette Haunss hinzu. Und wenn die Kinder ganz schnell etwas loswerden möchten, sprächen sie oft lieber noch Deutsch. Haben ausländische Kinder besondere Schwierigkeiten mit der zusätzlichen neuen Sprache? „Nein“, sagt die WiBe-Projektmitarbeiterin Christine Bleutge nach ihren Beobachtungen, „zum einen bringen sie bereits eine Sprachlernkompetenz mit, zum anderen ist die Fremdsprache auch für alle anderen neu, also ist es eine Chance, mit den anderen mitzuhalten.“ Wenn Kinder Sprachen mixen, setzt Stephanie Manz hinzu, liegt das nicht immer am Fehlen der neuen Vokabeln: „Manchmal machen sie es ganz bewusst, aus Spaß.“

Beim Fremdsprachenunterricht in der Grundschule will man von Lehrplänen wegkommen und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitstudie nutzen, um so Bildungsstandards die empirisch gestützt sind, zu formulieren, in denen die angestrebten Leistungen und Kenntnisse der Kinder aufgeführt werden. „Ein solcher Standard könnte zum Beispiel sein, dass ein Kind nach der zweiten Klasse in der Fremdsprache seine Familie beschreiben können sollte“, erläutert Erika Werlen. Die Erziehungswissenschaftlerinnen sprechen von einem kompetenzorientierten Ansatz, bei dem Lehrer die Kinder nicht ständig auf ihre Defizite hinweisen sollen, sondern insgesamt bewerten, ob sie sich verständlich machen können. „In den nächsten Jahren“, so Christine Bleutge, „wird es auch darum gehen, im Sprachunterricht einen bruchlosen Übergang zur fünften Klasse in den weiterführenden Schulen zu schaffen.“

Nähere Informationen:

Institut für Erziehungswissenschaft
Forschungsstelle für Schulpädagogik
Münzgasse 22 – 30, 72070 Tübingen
Prof. Erika Werlen, erika.werlen@uni-tuebingen.de
Christine Bleutge, M.A., christine.bleutge@uni-tuebingen.de
Tel. 07071/2976087, Fax /295871

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Michael Seifert idw

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