Projektverbund startet an der Ruhr-Universität: Probleme der Darstellung anthropologisch-medizinischen Wissens

Aus der heutigen medizinischen Praxis ist das Problem bekannt: Man akzeptiert als nachweislich gegeben letztlich nur das, was man fixieren, protokollieren und am besten sichtbar machen kann.

Wie solche Darstellungsmöglichkeiten und -gepflogenheiten das medizinische Wissen von jeher stark geprägt haben, erforschen Wissenschaftler der Ruhr-Universität im Projektverbund „Probleme der Darstellung anthropologisch-medizinischen Wissens in der Moderne“, der zum Sommersemester 2008 startet. Die Projekte werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für drei Jahre mit insgesamt 1,1 Millionen Euro gefördert.

Grundlage des Wissens: Messen, abbilden, protokollieren

Die kooperierenden Projekte gehen auf unterschiedlichen Gebieten der Frage nach, wie sich vor allem im 19. und 20. Jahrhundert medizinisch relevantes Wissen dadurch bildet, dass neben der Erforschung von Sachverhalten deren Darstellungsweisen das Wissen weitgehend mitbestimmen. So wie heute die bildgebenden Verfahren für die Diagnostik unverzichtbar und manchmal alleinig ausschlaggebend scheinen, obwohl es sich bei den 'Bildern' um verfahrensmäßig technisch verursachte Konstruktionen handelt, die sich zu der 'Sache' selbst nicht unbedingt analog verhalten, war medizinisches und anthropologisches Wissen immer schon davon abhängig, welche Darstellungstechniken zur Geltung kamen oder dominant wurden, und welche – aus welchen Gründen auch immer – nicht weiterverfolgt wurden. Zu den 'erfolgreichen' Darstellungstechniken gehören Aufzeichnungssysteme wie z. B. schematisierte Arztberichte, Protokolle, komplexe Pulsmessungen, auditive diagnostische Methoden, Röntgengeräte, Photographie. Es gehören aber auch Methoden sprachlicher Darstellung im engeren Sinne dazu: Fallberichte, vulgarisierende Formen der Darstellung pathologischer Erscheinungen und schließlich künstlerisch bedingte Formen der Darstellung wie der Roman oder die Erzählung.

Je komplexer, desto diffuser

Auf unterschiedlichen Feldern wollen die Forscher des Projektverbunds nachweisen, dass Wahl und Ausschluss von Darstellungsmethoden unmittelbare Konsequenzen darauf hat, was man vom Menschen besonders unter medizinischen Aspekten weiß oder zu wissen glaubt. „Dabei wird sich auch herausstellen, dass dieses Wissen keineswegs immer präziser oder 'wahrer' wird“, erklärt Prof. Dr. Rudolf Behrens: „Zwar ist ein gewaltiger Fortschritt durch die enorme Ausdifferenzierung des medizinisch-anthropologischen Wissens unbezweifelbar. Aber dieser Anschein von Fortschritt verdeckt auch eine Menge Probleme.“ Unsichtbar blieben so z.B. der Umstand, dass medizinisches Wissen so komplex werden kann, dass es nicht nur in den Augen eines Laien wieder diffus wird. Als Kompensation bilden sich gleichzeitig in der Öffentlichkeit über vulgarisierende Darstellungen Mythen. Ein Beispiel dafür ist der Mesmerismus, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Basis von Theorien eines 'tierischen Magnetismus' als Allheilmittel galt, mit Elektrizität und Hypnose experimentierte und gleichzeitig in literarischen Texten ein besonderes Darstellungsfeld fand. Hier konnten die komplexen Verfahren breit dargelegt werden. Gleichzeitig aber konnte das 'Geheimnisvolle' dieser neuen Wissensform über Betonungen und unterschwellige Akzentuierungen erotischer Momente im therapeutischen Geschehen gesteigert werden.

Parallele (Medizin-)Welten in Südasien

Die Annahme eines glatten linearen Fortschritts ignoriere aber auch andere Momente, betonen die Forscher. So gerate etwa aus dem Blick, dass sich gleichzeitig unterschiedliche Wissenskulturen herausbilden können, die mit unterschiedlichen Darstellungsverfahren operieren, zueinander in Konkurrenz stehen oder wechselseitig übersetzt werden müssen. Beispiel Schwindsucht im 19. Jahrhundert: Sie ist solange mit divergierenden Symptomen und bizarren moralischen Zuschreibungen verbunden, bis sich durch die Entdeckung des Tuberkelbakteriums durch Robert Koch 1880 das Wissen um die Krankheit begrenzt. Auch das scheint allerdings die Literatur der Zeit nicht davon abzuhalten, die Krankheit als ein Faszinosum mit unklaren moralischen und erblich bedingten Implikationen darzustellen. Zudem erzeugt die Erfindung der Röntgendarstellung wieder andere Mythen der Sichtbarmachung und lenkt so die Aufmerksamkeit auf das Faszinosum des Inneren des lebendigen Körpers. Ein anderes Beispiel dieser Überlagerungen von Wissensformen, das in dem Forschungsverbund untersucht werden soll, ist die Koexistenz von verschiedenen medizinischen Wissenskulturen in Südasien. Erforscht wird die Entwicklung der hellenistisch-islamischen Medizin im Kanon indischer Therapieformen von einer hegemonialen zu einer als „indigen“ akzeptierten und neuerdings als „alternativ“ qualifizierten Therapieform mit internationaler Ausstrahlung. „Gerade dort wird zu lernen sein, wie konträre theoretische Ansätze über kulturelle Verfahren amalgierender Darstellung kompatibel gemacht werden und in der Praxis funktionieren“, so Prof. Behrens.

Die Projekte im Einzelnen

Der Projektverbund setzt sich aus vier Einzelprojekten zusammen: Die „Darstellung des Pathologischen im medizinischen und literarischen Diskurs in Frankreich im 19. Jahrhundert“ erforschen Romanisten unter der Leitung von Prof. Dr. Rudolf Behrens und Dr. Susanne Goumegou (Romanisches Seminar). Die „Darstellung als Problem und Promoter medizinischer Diagnostik von der Wende des 18./19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ untersuchen Prof. Dr. Irmgard Müller (Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin) und PD Dr. Heiner Fangerau (Institut für Medizingeschichte der Universität Düsseldorf). „Wissen und Form – diskursive Darstellungsformen anthropologischen Wissens im Epochenumbruch der Goethezeit (1770/1830)“ heißt das Projekt von Prof. Dr. Carsten Zelle (Germanistisches Institut). Prof. Dr. Stefan Reichmuth (Seminar für Orientalistik) erforscht „Medizinisches Wissen und plurale Kultur: Die graeco-islamische Medizin (tibb-i yunani) und ihre Darstellung in Südasien“.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Rudolf Behrens, Romanisches Seminar der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum, Tel.: 0234/32-22631, E-Mail: Rudolf.Behrens@rub.de

Media Contact

Dr. Josef König idw

Weitere Informationen:

http://www.ruhr-uni-bochum.de

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