Autoelektronik schafft neue Geschäftsmodelle

• Entwicklungsprozess funktionsorientiert und modulbasiert gestalten
• Batterie und Leistungselektronik weiterentwickeln
• Neue Geschäftsmodelle durch Standards und Innovationen
Veränderte Anforderungen an die elektrischen und elektronischen (EE-) Systeme in Fahrzeugen werden neue Geschäftsmodelle in der Automobilindustrie hervorbringen. Standardisierung, funktionsorientierte und modellbasierte Entwicklungsprozesse sowie die Elektrifizierung des Antriebs sind die aktuellen Herausforderungen, die auf der 13. EUROFORUM Jahrestagung „Elektronik-Systeme im Automobil“ am 10. und 11. Februar in München diskutiert wurden. „Der Markt diktiert die Inhalte von Innovation“, sagte Dr. Rainer Hermeling, Aufsichtsratsvorsitzender von Delphi Deutschland. Lösungen für Energieeffizienz, alternative Antriebe, Green Design und Emissionsreduktion seien „nur möglich mit Elektronik“. Für Jürgen Kiehne von EvoBus ist das Bordnetz der Schlüssel zur Kraftstoffeinsparung und zur Komfortsteigerung. EE-Komponenten müssten zukunftsfähig, leistungsfähig, wirtschaftlich und wiederverwendbar sein, erklärte Dr. Günter Reichart von der BMW Group. Hermeling befand: „Standardisierung schafft neue Möglichkeiten für die Wertschöpfungskette.“ Dr. Dirk Walliser von der MBtech Group stellte fest: „Für Innovation und Schnelligkeit in Projekten sind flexible Geschäfts- und Prozessmodelle gefragt.“
Fahrzeugelektronik erhöht die Verkehrssicherheit
90 Prozent der Innovationen im Automobil seien elektronikgetrieben, führte Hermeling aus. Einen besonders großen Fortschritt – eine „Revolution“ – habe ab den Neunziger Jahren die Digitalisierung gebracht. Die EE-Systeme im Fahrzeug dienten der Sicherheit, dem Komfort und dem Infotainment. „Infotainment heißt, dass das Auto mit seiner Umwelt kommuniziert“, präzisierte Hermeling. Dr. Dieter-Lebrecht Koch vom Europäischen Parlament sprach sich nachdrücklich für intelligente Fahrzeuge mit Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) und Fahrerassistenzsystemen (FAS) aus. Diese Systeme könnten helfen, CO2-Emissionen zu reduzieren, Energie effizienter einzusetzen, Verkehrsunfälle mit Toten und Verletzten zu verhindern und Lärm zu verringern. Koch: „IKT-Lösungen erhöhen die Verkehrssicherheit wirksam.“ Die Systeme sollten schnell eingeführt werden, und Koch schloss gesetzlichen Zwang nicht aus, falls eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie nicht die gewünschten Ergebnisse liefere. Delphi-Aufsichtsratschef Hermeling legte dar, der Kunde sehe den Nutzen von Fahrerassistenzsystemen, wolle aber für mehr Sicherheit nicht mehr zahlen. Er zitierte eine Studie aus den USA, die einen „psychologischen Effekt im Markt“ aufgedeckt habe: Vor einem Auto-Neukauf befragt, würden die Kunden für einen Mehrwert an Sicherheit am ehesten mehr zahlen. Beim Autokauf selbst befragt, hätten die Kunden für einen Mehrwert an Entertainment am häufigsten mehr gezahlt.
Optimierter Entwicklungsprozess
Hermeling beschrieb die Trends in der Fahrzeugelektronik: „Funktionalität geht in die Software, der Standardisierungslevel bei Hard- und Software steigt, es wird mehr systembezogene Standards und eine stärkere Standardisierung in der Kommunikation geben.“ Auch an der Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI) seien künftig mehr Flexibilität und Integration zu erwarten: „Die mikroelektronische Integration hilft, Komplexität zu beherrschen.“ Hermeling empfahl, die Partitionierung des gesamten Informationsaufwands im Fahrzeug sowie die Integration in das HMI ganz zu Beginn der Entwicklung zu klären: „Man muss das Fahrzeug als komplettes Informationsverarbeitungssystem betrachten.“ Das sei auch eine strukturelle Herausforderung für die Organisation, so dass sich neue Geschäftsmodelle ergäben. „Systemintegration beginnt bei der Definition der Fahrzeugspezifikationen“, pflichtete BMW-Experte Dr. Jürgen Reichart bei. Er stellte den modellbasierten Entwicklungsprozess vor, der technologieunabhängig und daten- statt dokumentenbasiert sei. Die Fahrzeuganforderungen würden in eine Funktionsliste und von dort in ein Funktionsnetzwerk übertragen, auf dessen Grundlage dann die Partitionierung erfolge.
Funktionsorientierung und Modulstrategie
Dr. Axel Heinrich von Volkswagen berichtete, dass sich durch eine frühzeitige Festlegung des Funktionsumfangs eines Fahrzeugs der Deckungsbeitrag optimieren lasse. Dies sei abhängig von der Menge der Funktionen und vom Entscheidungszeitpunkt über den Funktionsumfang. Heinrich riet zu einer Modulstrategie, um die Marktforderung nach immer mehr Varianten und Innovationen zu erfüllen: „Die modulare Gestaltung von Komponenten und Systemen ermöglicht Vielfalt, senkt die Kosten und steigert die Qualität.“ Da der Kunde sich für bestimmte Funktionen und nicht für elektronische Komponenten entscheide, sei ein funktionsorientierter Entwicklungsprozess sinnvoll, in dem die Abstimmung anhand definierter Kommunikationswege vor sich gehe. Heinrich: „Funktionsorientierung erfordert veränderte Rollen und neue Prozesse. Es gibt eigene Verantwortliche für die Funktionen, die Architektur, das System und so weiter.“ Die Kombination von Funktionsorientierung und Modulstrategie ermöglicht laut Heinrich die Mehrfachnutzung von Funktionen in Form von Modulbausteinen und schafft Vorteile für den Fahrzeughersteller: „Baukästen bilden die Funktionen in Modulen ab und bieten diese zur Nutzung im Fahrzeug an.“
Risikomanagement und Kooperationen in der Entwicklung
Um während des Entwicklungsprozesses eine stets aktuelle und angemessene Risikobewertung zu ermöglichen, empfahl Hubert Hietl von Audi ein Projektmanagement und ein Monitoringsystem in der Prozesskette. Im Zuge des Risikomanagements sei für jede Komponente eine Risikozahl zu ermitteln. „Erfolgsvoraussetzungen sind neben einer zukunftsfähigen Architektur, dass die vorhandenen Prozesse konsequent angewandt und weiterentwickelt werden und Zielerreichung kontinuierlich gesteuert wird“, so Hietl. Rainer Heers von Visteon Deutschland plädierte für flexible, skalierbare Lösungen und die Einbindung der Konsumentenelektronik in das HMI-Design. Er regte Entwicklungspartnerschaften an, da viele Funktionen über Softwarekomponenten abgedeckt würden. Dr. Rainer Hermeling von Delphi ging ebenfalls auf Kooperationen zwischen Wirtschaft und Hochschulen ein: „Die Innovationsgeschwindigkeit und die Investitionssummen sind so hoch, dass Innovationen nur in der Praxis getätigt werden können.“
Batterie und Leistungselektronik weiterentwickeln
Dr. Stefan Kampmann von Bosch sprach die Rolle der Elektronik bei der Optimierung des Verbrennungsmotors an. Erforderlich sei eine „höhere Intelligenz in den Systemen“, die die Gemischbildung, den Kraftstoffverbrauch und die Emissionen sowie den Getriebe-Betriebspunkt und die Abgasnachbehandlung verbessern könne. „Der Verbrennungsmotor bleibt Entwicklungsschwerpunkt und Wettbewerbsfaktor“, zeigte sich Kampmann überzeugt. Dennoch gab er eine eindeutige Perspektive: „Die Elektrifizierung des Fahrzeugs kommt langsam, aber bestimmt.“ Herausforderungen seien die Batterie und die Leistungselektronik mit Problemfeldern wie elektromagnetischer Abstrahlung und Wärmeenergie-Verlust. Kampmann forderte, die Effizienz und Robustheit der Leistungselektronik zu optimieren, und berichtete von den Bemühungen seines Hauses, diese temperaturresistenter zu machen. Für die Weiterentwicklung in Leistungsbauelementen sei ein Technologiewechsel notwendig: „Schneller technologischer Fortschritt ist essentiell.“ Der Bosch-Experte empfahl, „zukunftsoffen“ zu denken und auch schwache Signale des Marktes zu registrieren. Er sprach sich für neue Kooperationsmodelle aus: „Vertikale Integration ermöglicht Innovationen über die gesamte Wertschöpfungskette.“
„Wir sind am Wandelpunkt der Mechatronik“
Die globalen Megatrends Urbanisierung, Umweltschutz und demographischer Wandel wirken sich auf das Fahrzeug der Zukunft aus. „Zero emissions, zero accidents, always on, always easy“, beschrieb Prof. Dr. Gernot Spiegelberg von Siemens das künftige Mobilitätskonzept und konstatierte: „Die Zeit zur Bündelung aller Vorteile aus der Elektrifizierung von Fahrzeugen ist gekommen.“ Dafür müsse die Mechatronik neu verstanden werden. Spiegelberg betrachtete die Schnittstellen zwischen Auto und Energie. Bei einem bidirektionalen Ladevorgang könne die Batterie als mobiler Speicher zum „virtuellen Kraftwerk“ werden. Der Ladezustand des Fahrzeugs lasse sich dann bedarfsoptimal steuern. Dafür bedürfe es jedoch eines neuen Geschäftsmodells, und Entwicklungsbedarf gebe es nicht nur bei der Batterie. Spiegelberg: „Ein rein elektrisches Fahrzeug braucht einen speziellen Antriebsstrang und eine neuartige Systemarchitektur.“ Dr. Thomas Heckenberger von Behr machte darauf aufmerksam, dass bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen ein Zielkonflikt im thermischen Bereich bestehe. Der Energiewettbewerb verlange eine hohe Energieeffizienz. Wichtig für die Lösung des Konflikts seien intelligente Warm-up-Phasen sowie geeignete Energiespeicher. „Eine Lithium-Ionen-Batterie mit Kompressionskühlkreislauf und Wärmepumpe ist dafür am effizientesten“, so Heckenberger.
Vorteile von Lithium-Ionen-Batterien
Zur Batterietechnologie referierten auf der EUROFORUM-Tagung Prof. Dr. Martin Winter von der Universität Münster und Dr. Jörg Kümpers von Johnson Controls Saft. „In einer Batterie ist chemische Energie gespeichert, die in elektrische Energie umgewandelt wird“, erklärte Kümpers. Damit eine Batterie aufladbar sei, müsse sich diese Reaktion umkehren lassen. „Die Natur hat nicht viele Systeme, mit denen die Reaktion reversibel gestaltbar ist. Das beste System ist das Lithium-Ionen-System“, analysierte Kümpers. Die Vorteile seien, dass Energie, Leistung und Durchsatz höher sind als etwa bei Blei-Säure-Batterien. Das bedeute eine höhere Lebensdauer. Winter betonte den hohen Wirkungsgrad von Lithium-Ionen-Batterien und verwies auf die geringere Ladbarkeit und Sicherheit von Lithium-Metall-Zellen. Lithium-Ionen-Batterien seien stabil hinsichtlich Selbstentladung und böten Variabilität und Design-Vielfalt. „Lithium-Ionen-Zellen sind leichter, haben weniger Volumen und eine höhere Energie. Damit haben sie das größte Potenzial für Hochenergie-Anwendungen“, fasste Kümpers zusammen. Winter wies darauf hin, dass Hochspannung und Hochenergie auch hohe Reaktivität bedeuteten, was sich auf die Sicherheit auswirke. „Lebensdauer, Sicherheit und Ladefähigkeit von Lithium-Ionen-Batterien sind sehr stark temperaturabhängig“, so der Professor. Für die elektrische Reichweite des Batteriesystems ist Winter zufolge ein Technologiewechsel erforderlich. Zwar hätten Brennstoffzellen eine höhere Reichweite als Lithium-Ionen-Batterien, aber einen geringeren Wirkungsgrad. „Die Konzepte sind da. Wir können also sukzessive evolutionär lernen“, urteilte der Experte für Elektrochemie. Nach Ansicht von Kümpers steht Deutschland gegenüber Asien und speziell Japan in der Batterieentwicklung zurück, ist aber „für das Gesamtsystem bestens vorbereitet“. Winter meinte, Deutschland habe eine starke Chemieindustrie sowie starke Automobilhersteller und Zulieferer. Es fehle jedoch ein erfahrener Zellenhersteller. Was heute entwickelt werde, brauche fünf bis sechs Jahre bis zur Serienreife. Winters Appell: „An der Zukunft muss jetzt gearbeitet werden!“

Die 14. EUROFORUM Jahrestagung „Elektronik-Systeme im Automobil“ findet vom 8. bis 11. Februar 2010 in München statt.

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Carsten M. Stammen
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